Der Kaiser befahl: "Scharfschießen"
Beim Streik von 1912 waren Gewerkschaften uneinig
Der Angriff kam überraschend. Als die Menge ins Wirtshaus drängte, zogen die draußenstehenden Polizisten ihre Säbel. Die Versammlung von Streikenden der Zeche Mont Cenis in Sodingen endete in einem Blutbad. Als im Ruhrgebiet vom 11. bis 19. März 1912 die Bergarbeiter streikten, gab es erbitterte Auseinandersetzungen. Schließlich marschierte Militär gegen die Ausständler.
Ein Augenzeuge des blutigen Vorfalls in Sodingen am Mittwoch, dem 13. März 1912, war der Gewerkschafter Fritz Waldhecker. Für den Verband der Bergarbeiter Deutschlands (Alter Verband) wollte er vor streikenden Belegschaftsmitgliedern der Zeche Mont Cenis referieren. Als die Ausständler um etwa vier Uhr nachmittags in das Versammlungslokal strömten, wurden sie plötzlich von einigen Polizisten angegriffen. Mit der "blanken Waffe" hätten sie auf die Menge eingeschlagen, berichtete der Funktionär Waldhecker seiner Organisation: "Ein Bergmann an meiner linken Seite wurde mit einem Säbelhieb niedergestreckt, so daß mein Überzieher mit Blut durchtränkt war. Es entstand nun förmlich eine Panik, und ich habe wohl vier bis fünf Meter keinen Fuß auf den Erdboden bekommen, denn der Druck war nunmehr ungeheuer." Fenster und eine Flügeltür wurden eingedrückt. Es gab mehrere Verletzte.
Aber die Metzelei in Sodingen war keineswegs ein Einzelfall während dieses Streiks. Der Gendarmerie saßen die Waffen locker. Die Streikenden seien vogelfrei gewesen, klagten Gewerkschaftsführer. Und in einer Broschüre des Alten Verbandes über den Ausstand schreibt der Verfasser: "Es war, als wenn die ganze Hölle gegen die um Verbesserung ihrer Lebenshaltung kämpfenden Bergarbeiter losgelassen" worden wäre. Im Schlußwort resümiert er: Wer "objektiv" sei, der müsse erkennen, "daß im Jahre 1912 ein Verbrechen an den Bergarbeitern verübt worden ist, wie es schwerer nicht gedacht werden kann. Die Bergarbeiter sind in ihrem Kampfe unterlegen, und wenn sie ihren natürlichen Gegnern unterlegen wären, so würde man sich damit leichter abfinden können. Aber sie sind unterlegen, weil gewissenlose Schurken den Verrat planmäßig organisierten und mit Hilfe von Polizei und Gendarmen durchführten." Schon bevor das Jahr 1912 zu Ende war, meinte der Autor zu wissen, daß es "als ein denkwürdiges in der Geschichte der Bergarbeiterbewegung bezeichnet werden" wird.
Tatsächlich war für die Führung des Alten Verbandes bis dahin Unvorstellbares geschehen. Der Gewerkverein christlicher Bergarbeiter Deutschlands hatte den Streikenden einen Zweifrontenkampf aufgezwungen. Nicht nur, daß er sich an dem Streik nicht beteiligte, er setzte seinen Einfluß sogar gegen die Ausständler ein. Die Rivalitäten zwischen den Bergarbeitergewerkschaften in Deutschland erreichten damit einen Höhepunkt. Das Wetteifern von vier Organisationen schadete schließlich den von ihnen vertretenen Mitgliedern, denn die Unternehmer wußten die Uneinigkeit zu nutzen.
Obwohl der Alte Verband die größte Bergarbeitergewerkschaft Deutschlands war, hatte er keine eindeutige Führungsrolle. Im Jahr 1911 standen seinen 120136 Mitgliedern immerhin 84321 "Christliche" gegenüber, sowie 46995 Angehörige der Polnischen Berufsvereinigung der Bergarbeiter und 3945 im Gewerkverein der Bergarbeiter (Hirsch-Duncker) Organisierte.
Voller Angst, von dem größeren Alten Verband aufgesogen zu werden, wagte es der Gewerkverein schon 1910 nicht, an einer gemeinsamen Aktion mit den drei anderen Bergarbeitergewerkschaften teilzunehmen. Durch polemische Attacken suchte er seinen Kurs zu rechtfertigen. Die Führer des Alten Verbandes "wollen kein friedliches Zusammenarbeiten mit den anderen Organisationen, sondern deren Vernichtung", ließ er in einer Resolution vom 27. November des Jahres verbreiten, als er die Beteiligung an einer von diesen vorgeschlagenen Lohnbewegung ablehnte. Die Polnische Berufsvereinigung und der Hirsch-Dunckersche Gewerkverein erklärten sich dagegen bereit zu einem gemeinsamen Vorgehen.
Wie ihre Bruderorganisation glaubten sie, der Mitgliedschaft das schuldig zu sein. Nach einem Rückgang der Konjunktur hatte sich nämlich die Lage im Jahr 1910 wieder gebessert. Doch obwohl der Kohlenabsatz stieg, blieben die Löhne unter dem Niveau von 1907. Gleichzeitig kletterten die Lebensmittelpreise.
Am 30. November 1910 reichte der "Dreibund" beim Zechenverband seinen Forderungskatalog ein. An erster Stelle wurde eine Lohnerhöhung von 15 Prozent verlangt. Als sich der Zechenverband für unzuständig erklärte, verhandelten die Gewerkschaften über die Arbeiterausschüsse mit den einzelnen Unternehmen. Ohne Erfolg. In der Hoffnung auf einen baldigen Sinneswandel des Gewerkvereins wurde der Arbeitskampf daraufhin vertagt.
Anfang Oktober 1911 regte dann der Hirsch-Dunckersche Gewerkverein eine neue Lohnbewegung an. Der Zeitpunkt war nicht gerade günstig gewählt, denn die bevorstehenden Reichstagswahlen am 12. Januar 1912 verschärften die Gegensätze zwischen den parteipolitisch unterschiedlich gepolten Gewerkschaften. Besonders die beiden Hauptkontrahenten, der sozialdemokratisch ausgerichtete Alte Verband und der zentrumsnahe Gewerkverein, bezichtigten sich gegenseitig, ihre Aktionen nur an Wahlkampfinteressen zu orientieren. Aber auch nach den Reichstagswahlen gelang es dem Dreibund nicht, den Gewerkverein für ein gemeinsames Vorgehen zu gewinnen. Trotzdem sollte gestreikt werden, da den Verbündeten die Situation besonders geeignet schien. Die englischen Bergarbeiter planten nämlich ebenfalls einen Ausstand, so daß von der Insel kein Nachschub kommen würde. Von Vertretern des Gewerkvereins wurde der Streik in England allerdings als Grund für den Verzicht auf einen eigenen Arbeitskampf gewertet. "Weil beide (Nationen) um die Absatzgebiete streiten, müssen wir als vernünftige Arbeiter nicht auf Seiten der Engländer, sondern auf Seiten unserer Unternehmer stehen", beschwor einen Tag vor dem Ausbruch des Streiks im Ruhrgebiet, am 10. März 1912, der Funktionär Heinrich Imbusch die Teilnehmer einer Veranstaltung des Gewerkvereins. Daß ein Streik nicht im nationalen Interesse sei, wurde den Mitgliedern wiederholt vorgehalten.
Überrascht stellten die "natürlichen Gegner" fest, daß sie einen Überläufer aus dem anderen Lager auf ihrer Seite hatten, was die Bereitschaft, auf die Forderungen des Dreibundes einzugehen, nicht gerade förderte. Die Unternehmerseite hoffte zudem, diese Tarifauseinandersetzung in eine dauerhafte Schwächung der Gewerkschaften und sogar der Sozialdemokratie ummünzen zu können. So urteilte am 9. des Monats der Syndikus der Handelskammer Essen, Wilhelm Hirsch: "Die Situation ist die, daß wenn es wirklich zum Streik kommt, dem großen sozialdemokratischen Verband der Nimbus der Unüberwindlichkeit in den Augen der Arbeiter einmal gründlich heruntergerissen werden muß. Damit würde dieser Verband auf Jahre hinaus lahmgelegt und die auf dem Boden der heutigen Gesellschaftsordnung stehenden Arbeiterorganisationen würden außerordentlich gestärkt werden. Das würde die wirksamste Hilfe sein, die uns im Revier im Kampfe gegen die Sozialdemokratie überhaupt zu Theil werden könnte." Ähnlich äußerte sich Gustav Krupp von Bohlen und Halbach am 12. März 1912 gegenüber Kaiser Wilhelm II: Unter Umständen würden "einige große, für die Arbeiterschaft mit einer gründlichen Niederlage beendete Streiks" das Prestige der SPD so sehr schädigen, "daß die Suggestion ihres unaufhaltsamen Siegeszuges, mit der sie jetzt die Massen hinter sich herzieht vielleicht dadurch gebrochen werden könnte". Von der "wohltätigen Wirkung" solcher verlorenen Arbeitskämpfe versprach er sich eine "Änderung unserer ganzen politischen Verhältnisse".
Zu Beginn des Streiks im Ruhrgebiet machten sich die Gewerkschafter jedoch noch Hoffnungen, den Arbeitskampf siegreich hinter sich zu bringen. Am ersten Streiktag, dem 11. März 1912, legten nach Unternehmerangaben über 190 000 Bergleute die Arbeit nieder, was 50,97 Prozent der Belegschaften entsprach. Bis zum 13. März wurden es 61,2 Prozent. Von den Untertagearbeitern streikten sogar 69,9 Prozent.
Um die Ausweitung des Streiks zu stoppen, forderten die Unternehmer wie jedesmal weitgehende Schutzmaßnahmen für die Arbeitswilligen. Der Gewerkverein schloß sich an. Mit Greuelschilderungen über Ausschreitungen von Streikenden, die von der Presse verbreitet wurden, verliehen sie ihrem Anspruch Nachdruck. Mit der Wahrheit nahmen es die Berichterstatter dabei nicht allzu genau. Die Rheinisch-Westfälische Zeitung konstatierte in ihrer Ausgabe vom 15. März 1912, daß "in zahlreichen Fällen" die Darstellungen "entweder unwahr oder weitaus übertrieben worden" seien.
Doch die Lügen-Berichte erreichten ihr Ziel. Die Stimmung wurde aufgeheizt, das rigorose und brutale Vorgehen gegen die Streikenden ließ sich dadurch rechtfertigen. Als Handlanger der Streikgegner ließ sich auch die Justiz mißbrauchen. In Schnellverfahren verurteilte sie Ausständler wegen Geringfügigkeiten zu langen Gefängnisstrafen. Der Ausruf "Pfui, Streikbrecher" zum Beispiel brachte einem Bergmann sechs Wochen Haft. Die Pressekampagnen beeindruckten auch den Kaiser. Am 13. März 1912 ließ er dem Innenminister eine lapidare Notiz zustellen: "Vor allem Schutz der Arbeitswilligen in der energischsten Form! Scharfschießen!" Schließlich setzten sich die Unternehmer und der Gewerkverein mit ihrer Forderung nach dem Einsatz von Militär gegen die Streikenden durch. Am 14. März 1912 rückten etwa 5 000 Soldaten in die Kreise Dortmund, Hamm und Recklinghausen ein. Nur der Düsseldorfer Regierungspräsident lehnte die Hilfe des Militärs ab.
Angesichts des Aufmarsches von Soldaten bröckelte die Streikfront. Dazu kam, daß die Unternehmer drohten, allen, die nicht bis zum 16. März die Arbeit wiederaufnähmen, sogenannte Kontraktbruchschichten vom Lohn abzuziehen. Am 19. März - es streikten noch über 170 000 Arbeiter - gab es auf einer Delegiertenkonferenz des Dreibundes keine ausreichende Mehrheit für eine Fortführung des Kampfes.
"Ein unrühmliches Kapitel Bergarbeitergeschichte war beendet", schrieb der spätere Zweite Vorsitzende des Alten Verbandes, August Schmidt, in seinen Erinnerungen.
Astrid Brand, 1987
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