Was schwächen sollte, machte stark
"Sozialistengesetz" war "Agitationsmittel f ü r die Sozialdemokratie"
In einem blutigen Gemetzel endete 1885 in Frankfurt die Beerdigung eines Sozialdemokraten. Als ein Genosse am Grab von der Freiheit sprach, für die der Tote gekämpft habe, griffen die anwesenden Polizisten zu ihren Säbeln und hieben auf die zusammengedrängten Trauergäste ein. Die sozialistische Bewegung und damit auch die Gewerkschaften wurden damals im Deutschen Reich brutal unterdrückt. Eine rechtliche Grundlage bot das sogenannte Sozialistengesetz, das im Reichstag am 19. Oktober 1878 verabschiedet wurde und zwei Tage später in Kraft trat.
Mit dem "Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie" - so der offizielle Name - wollte sein geistiger Vater, der Reichskanzler Otto von Bismarck-Schönhausen, der jungen sozialistischen Bewegung den Todesstoß versetzen - durchaus im Einklang mit den herrschende Eliten, denen der Sozialismus als Bedrohung des Bewährten und Heiligen erschien.
Zwei Attentate auf den greisen Kaiser Wilhelm I. im Mai und Juni 1878 gehören zur Vorgeschichte des "Sozialistengesetzes". Beim zweiten Anschlag wurde das Staatsoberhaupt schwer verletzt. Und obwohl es keine näheren Verbindungen der Attentäter zur Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands (SAPD) gab, dienten ihre Verbrechen als willkommener Anlaß für die Terrorisierung und Unterdrückung dieser politischen Richtung. Bismarck ließ den Reichstag auflösen, der nach dem ersten Anschlag auf den Kaiser die Sozialistenverfolgung noch nicht durch ein Sondergesetz erleichtern wollte. Das neue Parlament war willfähriger.
Selbst den angesehenen Historiker Heinrich von Treitschke hatte die irrationale Furcht vor den Sozialisten infiziert. In einem Aufsatz aus dem Jahr 1878 formulierte der Nationalliberale: "Eine allmähliche Läuterung der Sozialdemokratie von innen heraus haben wir nie erwartet, denn der Unsinn und die Niedertracht können sich nicht abklären. ... Wir können uns nicht mehr darüber täuschen, die Sozialdemokratie ist der Rute entwachsen, sie ist zu einer Schule des Verbrechens geworden. ... Die Sozialdemokratie bildet einen Staat im Staate. ... Es wird höchste Zeit, daß der Staat für längere Zeit die Vereine der Sozialdemokratie schließt, ihre Zeitungen verbietet, ihre Agenten aus den großen Mittelpunkten der Arbeiterbevölkerung ausweist. Diese Menschen trotzen auf die Gewalt der Fäuste, und sie verstehen nur die Sprache der Gewalt." Dieser Meinung schlossen sich im Reichstag bei der Abstimmung über das "Sozialistengesetz" 221 Volksvertreter an, 149 Abgeordnete votierten mit Nein, darunter die neun Sozialdemokraten. Bei den Wahlen hatte die SAPD etwa ein Zehntel weniger Stimmen erhalten als beim Urnengang im Vorjahr.
Mit der Parlamentsentscheidung vom 19. September wurde eines der düstersten Kapitel in der Geschichte der Arbeiterbewegung aufgeschlagen. Die SAPD, die ihrer politischen Richtung nahestehenden Gewerkschaften und anderen Organisationen wurden durch das "Sozialistengesetz" für zwölf Jahre weitgehend in den Untergrund gedrängt. Sozialdemokratische Abgeordnete konnten jedoch weiterhin gewählt werden. Bis Ende 1878 wurden allein 17 gewerkschaftliche Zentralverbände und über 60 lokale Vereine verboten. Nur wenigen Organisationen der Freien Gewerkschaften gelang es, durch Statutenänderungen die Auflösung zu verhindern. Die liberalen Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereine wurden verschont.
Die Zeitungen und Zeitschriften der sozialistischen Arbeiterbewegung fielen dem Ausnahmegesetz ebenfalls zum Opfer, genauso andere "Druckschriften, in welchen sozialdemokratische, sozialistische oder kommunistische auf den Umsturz der bestehenden Staats- oder Gesellschaftsordnung gerichtete Bestrebungen in einer den öffentlichen Frieden, insbesondere die Eintracht der Bevölkerungsklassen gefährdenden Weise zutage treten", wie es in § 11 heißt. Wer sich für "sozialdemokratische, sozialistische oder kommunistische" Ziele engagierte, mußte mit Geld- oder Gefängnisstrafen rechnen oder sogar mit der Ausweisung. § 22 und vor allem § 28 schränkten die Aufenthaltsmöglichkeiten für viele Sozialdemokraten empfindlich ein. § 28 erweiterte das Unterdrückungsinstrumentarium in Bezirken oder Ortschaften, die durch sozialistische Aktivitäten "mit Gefahr für die öffentliche Sicherheit bedroht sind" beträchtlich. Absatz 3 bestimmte, "daß Personen, von denen eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung zu besorgen ist, der Aufenthalt in den Bezirken oder Ortschaften untersagt werden kann". Bis 1887 wurde der "Kleine Belagerungszustand" über sechs Gebiete verhängt: Berlin und Umgegend (November 1878), Hamburg, Altona und Umgegend (Oktober 1880), Leipzig und Umgegend (Juni 1881), Spremberg und Umgegend (Mai 1886), Frankfurt am Main, Offenbach und Umgegend (Frankfurt und Umland im Dezember 1886, Offenbach und Umland im Februar 1887) sowie Stettin und Umgegend (Februar 1887).
Genau 797 Personen wurden gemäß § 28 von ihren Wohnorten ausgewiesen, ermittelte der Historiker Heinzpeter Thümmler anhand von Polizeilisten. Manche von ihnen traf es gleich mehrfach, wenn sie sich nach einer Ausweisung in einem Gebiet niedergelassen hatten, wo später ebenfalls der "Kleine Belagerungszustand" verhängt wurde. Insgesamt ermittelte Thümmler 891 Ausweisungsverfügungen, 160 wurden - so geht es aus den Polizeiakten hervor - zurückgenommen, allerdings oft erst nach Jahren. Hunderte von Sozialdemokraten, die meisten von ihnen Familienväter, mußten ihre Wohnorte innerhalb weniger Tage oder sogar Stunden verlassen. Frau und Kinder der Ausgewiesenen blieben häufig mittellos zurück, weil der Ernährer noch nicht wußte, wo er sich eine neue Existenz würde aufbauen können. Viele gingen ins Ausland, oft nach Amerika. "Genossen! Gedenket unserer Weiber und unserer Kinder!", appellierten 24 aus Berlin und Umgegend ausgewiesene Sozialdemokraten in dem ersten illegalen Flugblatt unter dem "Sozialistengesetz". Für die Opfer des Belagerungszustands wurde gesammelt, es bildeten sich Unterstützungkomitees. Selbst diese Hilfsmaßnahmen versuchte die Polizei häufig zu verhindern. Der jüngste Ausgewiesene war noch keine 18 Jahre alt, der älteste mußte kurz vor seinem 65. Geburtstag seinen Wohnort verlassen. Unter den Ausgewiesenen waren nur zwei Frauen. Das politische Engagement für die Sozialdemokratie und die gewerkschaftliche Tätigkeit gehörten bei vielen Ausgewiesenen zusammen. "Und tatsächlich zeigen die Quellen, daß die meisten der Ausgewiesenen nicht nur Mitglied der ihrem Beruf entsprechenden Gewerkschaftsorganisationen waren, sondern auch zu deren aktivsten Funktionären zählten", erläutert Thümmler. Gar nicht selten war aber auch, daß führende Gewerkschafter ausgewiesen wurden, obwohl sie keine Verbindungen zur Sozialdemokratie hatten. Oft wurde das "Sozialistengesetz" ungeniert im Sinne der Unternehmer angewendet: Streikführer erhielten nicht selten Ausweisungsverfügungen, Streikversammlungen wurden verboten.
Aus dem öffentlichen Leben wurden die Sozialdemokraten durch das "Sozialistengesetz" schnell verdrängt. "In den bürgerlichen Kreisen glaubte man vielfach, wir seien mausetot. Was der Mensch gern hofft, das glaubt er. Weil wir so wenig äußere Lebenszeichen von uns gaben, was war wahrscheinlicher, als daß wir kaum noch lebten. Aber wir lebten", schreibt August Bebel in seinen Memoiren. Eine Nachwahl in Breslau, wo die Partei ihr Mandat behauptete, habe das schon 1879 eindeutig bewiesen. In der Illegalität und mit den eng begrenzten legalen Mitteln wurde effektive Parteiarbeit geleistet. Das in Zürich erscheinende Zentralorgan "Der Sozialdemokrat", das trotz Verbots im Deutschen Reich kursierte, stärkte den Zusammenhalt der Genossen.
Bei den Reichstagswahlen 1881 erhielt die Partei 6,1 Prozent der Stimmen gegenüber 7,6 im Jahr 1878. Beim nächsten reichsweiten Urnengang 1884 waren es 9,7 Prozent. Im Jahr 1887 kam die SAPD bei den Reichstagswahlen auf 10,1 Prozent der Stimmen. 1890 votierten im Deutschen Reich 19,7 Prozent der Wähler für die SAPD, die damit zur stärksten Partei geworden war. "Der Belagerungszustand, diese 'schneidigste' Waffe des Sozialistengesetzes erwies sich schließlich als das beste Agitationsmittel f ü r die Sozialdemokratie", erklärte Ignaz Auer in dem zweibändigen Werk "Nach zehn Jahren", das ein Jahrzehnt Sozialistenverfolgung dokumentiert. Bebel kam zu dem gleichen Ergebnis. In seinen Lebenserinnerungen schreibt er: "Der Vorgang erinnert an die Verfolgung der Christen in den ersten Jahrhunderten unserer Zeitrechnung durch die römischen Cäsaren und ihre Werkzeuge. In die äußersten Winkel des Reiches vor den Verfolgungen flüchtend, predigten sie überall die neue Lehre, wegen der sie verfolgt wurden, und untergruben so am meisten das Reich, das sie als Umstürzler fürchtete."
Parallel zu dem Siegeszug der Partei verlief die Entwicklung der sozialistischen Gewerkschaftsbewegung. Die Auflösung ihrer Organisationen hatte sie allerdings schwerer getroffen als die Partei. Seit etwa 1880 nahmen die Streikaktivitäten zu und zugleich wuchs in der Arbeiterschaft das Bedürfnis nach gewerkschaftlichen Organisationen und die Periode der "milden Praxis" bei der Handhabung des Sozialistengesetzes begünstigte den Neuanfang. Die "milde Praxis" von 1881 bis 1886 kam den Sozialdemokraten kaum zugute, gab aber gewerkschaftlichen Organisierungsbemühungen etwas Spielraum. Zur gleichen Zeit versuchte Bismarck, die Arbeiterschaft mit Sozialreformen in den Obrigkeitsstaat seiner Couleur zu integrieren. Ende 1884 existierten wieder 13 Zentralverbände, 1885 wurde der Stand von 1877/78 übertroffen. Die örtlichen Fachvereine hatten jedoch eine besonders große Bedeutung. Die Fachblätter waren bei den Gewerkschaften, wie der illegal vertriebene "Sozialdemokrat" bei der Partei, ein einigendes Band.
Der "Streikerlaß" des preußischen Innenministers Robert von Puttkamer aus dem Jahr 1886 bedeutete eine neue Kurskorrektur. Der Staat griff bei Arbeitskämpfen noch mehr als vorher zugunsten der Unternehmer ein. Das behinderte zwar zeitweise die Streikaktivitäten, stoppte jedoch das Wachstum der Gewerkschaftsbewegung nicht mehr. Auch die Verhängung des "Kleinen Belagerungszustandes" über weitere Gebiete zeigte kaum noch einschneidende Wirkungen auf die Entwicklung der sozialistischen Bewegung, die sich an die beschränkten Aktionsmöglichkeiten angepaßt hatte.
Am Ende des Dreikaiserjahres 1888, Puttkamer war entlassen worden und Wilhelm II. schien wie der 99-Tage-Kaiser Friedrich III. einen liberaleren Kurs zu bevorzugen als Bismarck, kam wieder Bewegung in die Arbeiterschaft, 1889/90 erfaßte eine große Streikwelle das Deutsche Reich. Von Januar 1889 bis April 1890 wurden 1.100 Streiks mit insgesamt 400.000 Ausständlern gezählt. Höhepunkt war der Ruhrbergarbeiterkampf mit über 90.000 Streikenden im Mai 1889, in Deutschland die größte Streikaktion des 19. Jahrhunderts. Diese Welle von Ausständen brachte der Arbeiterbewegung neuen Schwung.
Am 30. September 1890 lief das "Sozialistengesetz" nach viermaliger Verlängerung endgültig aus. Die SAPD war zur stärksten Partei geworden und die sozialistischen Gewerkschaften hatten ihre Mitgliederzahlen vervielfacht. Rund 56.000 Mitglieder zählten die Freien Gewerkschaften 1878, ungefähr 16.000 die Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereine. Im Jahr 1890 waren bei den Freien Gewerkschaften knapp 300.000 registriert. Dazu kamen 50.000 lokal organisierte Gewerkschafter und über 60.000 "Hirsche".
Astrid Brand, 1988
Verwendung nur mit Zustimmung der Autorin