Unternehmer forderten die Reichsregierung heraus

Im Ruhreisenstreit bekämpften sie 1928 Zwangsschlichtung

Aus Unternehmersicht mußte das ein unerhörter Vorgang sein: Als der Arbeitgeberverband für den Bezirk der Nordwestlichen Gruppe des Vereins Deutscher Eisen- und Stahlindustrieller, kurz Arbeitnordwest genannt, 1928 für ungefähr 230 000 Belegschaftsmitglieder zeitweise die Werkstore verschlossen hielt, wurden die Ausgesperrten mit staatlichen Mitteln relativ großzügig unterstützt. Im sogenannten Ruhreisenstreit zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften forderten die Unternehmer auch die Reichsregierung heraus, die sich nicht nur finanziell engagierte. Der Konflikt begann am 24. September 1928.

An jenem Tag kündigten die Metallarbeitergewerkschaften den Lohntarifvertrag in der rheinisch-westfälischen Eisenindustrie zum Ende des folgenden Monats. Der sozialistische Deutsche Metallarbeiter-Verband (DMV), der Christliche Metallarbeiterverband und der liberale Gewerkverein Deutscher Metallarbeiter (Hirsch-Duncker) forderten eine Lohnerhöhung um 15 Pfennig pro Stunde für alle Arbeiter über 21 Jahre.

Der Gegenvorschlag ließ wenig Kompromißbereitschaft vermuten: Arbeitnordwest bot an, den bisherigen Tarifvertrag um ein Jahr zu verlängern und die Einkommen der am schlechtesten bezahlten Zeitlöhner etwas aufzubessern. Die tarifliche Zulage hätte rund ein Prozent der Beschäftigten erfaßt. Stärkere Lohnerhöhungen seien angesichts der tatsächlich nicht gerade günstigen wirtschaftlichen Lage und der konjunkturellen Aussichten nicht tragbar, argumentierten die Arbeitgeber, die in einer Jubiläumsschrift ihres Verbandes aus dem folgenden Jahr ihr "Entgegenkommen" "als sehr weitgehend" lobten.

Nachdem in drei Verhandlungen der Tarifparteien keine Einigung erzielt wurde, kündigten die Unternehmer am 13. Oktober die Arbeitsverträge ihrer Belegschaften zum 1. November. Das Schlichtungsverfahren begann somit unter dem Druck der drohenden Massenaussperrung. Es endete am 26. Oktober mit dem Stichentscheid des staatlichen Schlichters Wilhelm Joetten, der Lohnerhöhungen von sechs Pfennig für die Zeitlöhner und von zwei Pfennig für die im Akkord Beschäftigten vorsah. Fünf Tage später, die Gewerkschaften hatten den Schiedsspruch inzwischen "trotz schwerer Bedenken" angenommen, und Arbeitnordwest blieb bei seiner Verweigerungshaltung, erklärte Reichsarbeitsminister Rudolf Wissell ihn auf Antrag der Arbeitnehmerorganisationen für verbindlich.

Am 31. Oktober um 14.30 Uhr erhielt Arbeitnordwest das Telegramm mit der Entscheidung des Ministers. Nach Ansicht des Verbandes traf die Verbindlicherklärung aber "ins Leere", denn "am Tage, an dem der Schiedsspruch wirksam werden sollte, am 1. November, bestand in der Nordwestgruppe kein Arbeitsverhältnis mehr", begründete der Geschäftsbericht. Rund 230 000 Arbeiter waren ausgesperrt. Arbeitnordwest hatte im Kampf gegen das System der "politischen Löhne" zur stärksten Waffe gegriffen und damit in den Augen der Öffentlichkeit überzogen.

"Unternehmer gegen den Staat" titelte der "Vorwärts" in seiner Ausgabe vom 1. November. In seinem Artikel warf das Organ der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands den Ruhrindustriellen vor, daß sie, "die sonst nicht genug über den Mangel einer starken Staatsautorität klagen können, sich gegen diese Staatsautorität erheben und damit die Anarchie, die Verneinung des Staatsgedankens proklamieren". Auch bürgerliche Blätter schlossen sich der harschen Kritik an: Schon am 30. Oktober warnte die "Frankfurter Zeitung": "Es ist mit aller Deutlichkeit zu sagen, daß die Sabotierung eines verbindlichen Schiedsspruches durch Stillegung sich nicht etwa bloß gegen die Arbeiter, sondern gegen eine staatliche Einrichtung, also gegen den Staat richtet und daher eine Art revolutionären Aktes darstellt. Die Allgemeinheit kann sich dem unter keinen Umständen unterwerfen." Die "Vossische Zeitung" verbreitete in ihrer Ausgabe vom 1. November ebenfalls die Auffassung, daß der Kampf der "mächtigsten Großunternehmer" gegen die "hungernden Arbeiter" nicht nur den Lohnabhängigen gelte, sondern der Regierung und dem Staat.

Daß die von den Arbeitgebern öffentlich herausgestellten wirtschaftlichen Motive für den Arbeitskampf eine geringere Rolle spielten als das politische Engagement, gab Max Schlenker, der Geschäftsführer des Langnamvereins und der Nordwestlichen Gruppe des Vereins Deutscher Eisen- und Stahlindustrieller später zu: Die Arbeitgeberschaft, schrieb er 1929, "ist sich von Anfang an darüber klar gewesen, daß die ihr aus der Aussperrung entstehenden Kosten wahrscheinlich größer sein würden als die durch den Schiedsspruch entstehenden Mehrkosten. Aber es handelte sich für die Eisen schaffende und Eisen verarbeitende Industrie letzten Endes um ihr Bestehen, es handelte sich für sie darum, sich gegen eine Wirtschaftsgebarung zu stemmen, die früher oder später zum Sozialismus, wenn nicht zum Bolschewismus führen muß."

Empörung auch im Reichstag: SPD und KPD forderten staatliche Unterstützung für die Ausgesperrten, von denen nur rund ein Drittel gewerkschaftlich organisiert und damit leidlich versorgt war. Die Hilfsgelder sollten direkt von den Unternehmern eingezogen werden, verlangten die Linksparteien. Das Zentrum brachte den Entwurf einer Gesetzesänderung ein, wonach Aussperrungen bei gültigen Tarifverträgen rückwirkend vom 15. Oktober 1928 verboten sein sollten. Am 17. November beschloß der Reichstag mit großer Mehrheit, die Ausgesperrten mit öffentlichen Mitteln zu unterstützen.

Die Gewerkschaften hatten in der Zwischenzeit weiter mit Arbeitnordwest verhandelt. Seit dem 13. November versuchte der sozialdemokratische Regierungspräsident von Düsseldorf, Carl Bergemann, zwischen den Parteien zu vermitteln. Unter dem Druck der Aussperrung und entmutigt durch ein Urteil des Arbeitsgerichtes Duisburg, das am 12. November - gemäß den Arbeitgeber- Argumenten - die Nichtigkeit des Joetten-Schiedspruches festgestellt hatte - machten die Verhandlungsführer der Gewerkschaften weitreichende Zugeständnisse. Der für verbindlich erklärte Schiedsspruch sollte durch eine freie Tarifvereinbarung ersetzt werden und zwar selbst dann, wenn das Reichsarbeitsgericht im Sinne der Arbeitnehmerorganisationen die Gültigkeit der staatlichen Entscheidung feststellen würde. Die ausgehandelten Lohnerhöhungen blieben erheblich hinter den Ergebnissen des Joetten- Schiedsspruches zurück.

Am selben Tag, als dieser Kompromiß ausgehandelt wurde, beschloß der Reichstag die günstigen finanziellen Regelungen für die Ausgesperrten und brachte die Übereinkunft damit zu Fall. Die Verhandlungsführer der Gewerkschaften, nun befreit von den Sorgen um die akute Notlage der betroffenen Arbeiter, verlangten wieder die Durchsetzung des Joetten- Schiedsspruches. Durch das Urteil des Landesarbeitsgerichtes Düsseldorf wurde dessen Rechtmäßigkeit am 24. November 1928 bekräftigt.

Trotz der vereinigten Front von Gewerkschaften und Staat trat Arbeitnordwest den Rückzug nicht an. Er kam aus seiner Isolierung heraus und erhielt Rückendeckung von den industriellen Spitzenverbänden: Die Vereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände und der Reichsverband der Deutschen Industrie erklärten ihre Solidarität. Ihre Bedenken gegen den forschen Kurs der Ruhrunternehmer hatten eine offene Parteinahme bisher verhindert.

Die staatliche Unterstützung der Ausgesperrten, ein Ergebnis der allgemeinen Entrüstung über das Vorgehen von Arbeitnordwest, konnten die Unternehmer wiederum nutzen, um das öffentliche Stimmungsbarometer in ihrem Sinne zu beeinflussen. Die Hilfsgelder von Gewerkschaften und Staat für die Ausgesperrten gingen nämlich teilweise über die Löhne hinaus und zwar gar nicht selten, da jeder Ausgesperrte ohne Prüfung der Bedürftigkeit und ohne Rückzahlungspflicht den üblichen Fürsorgesatz erhielt. So hatte beispielsweise ein verheirateter Arbeiter mit fünf Kindern aus Hamm im September 1928 nicht einmal 200 Mark in der Lohntüte gehabt, während der Aussperrung summierten sich seine Ansprüche gegenüber Gewerkschaft und Stadt im selben Zeitraum dagegen auf rund 300 Mark. Allzu rosig kann allerdings die Lage der Ausgesperrten nicht gewesen sein. Denn während der Lohnausfall der Ausgesperrten auf 45 bis 50 Millionen Mark beziffert wurde, erreichten die Unterstützungszahlungen nur eine Höhe von 17 bis 18 Millionen Mark. Die Edeka- Genossenschaften und die Konsumvereine im Revier verzeichneten einen deutlichen Umsatzrückgang. Bei manchen Waren, wie etwa Textilien und Schuhen betrug er bis zu 50 Prozent.

Die Beschwerde der Arbeitgeber über die hohen Unterstützungsleistungen änderte nichts an der ursprünglichen Praxis, ließ aber die Sympathiewerte für die Arbeiter und ihre Organisationen sinken, zumal diese zu einem Einlenken, zu Zugeständnissen an die andere Tarifpartei, nicht bereit schienen.

Bedrängt durch die hohen volkswirtschaftlichen Kosten des Tarifkampfes einigte sich das Kabinett des sozialdemokratischen Reichskanzlers Hermann Müller auf einen neuen Schlichtungsversuch. Die Rolle des "Oberschlichters" wurde Innenminister Carl Severing übertragen. "Es ist nur natürlich, daß diese Wahl der Unternehmerschaft nicht gerade besonderes Vertrauen einflößte", kommentierte Arbeitnordwest in seiner Jubiläumsschrift aus dem folgenden Jahr die Ernennung des SPD-Politikers zum Schiedsrichter. Die staatliche Sonderschlichtung entsprach aber offensichtlich den Interessen des Unternehmerlagers, da sie der Initiative sofort zustimmten. Bei den Gewerkschaften fiel vor allem dem DMV die Einwilligung schwer. Die Arbeitnehmerfunktionäre konnten davon ausgehen, daß das Ergebnis der Sonderschlichtung ungünstiger ausfallen würde als der erste Schiedsspruch. Und im Prinzipienstreit um die staatliche Schlichtung bedeutete die Aufgabe des Joetten-Entscheids ebenfalls einen Erfolg der Unternehmer. Eine Ablehnung der Regierungsinitiative hätte den DMV jedoch isoliert und so lenkte die Organisation am 2. Dezember 1928 - trotz erheblichen Widerstands in den eigenen Reihen - ein. Am Morgen des folgenden Tages öffneten die Betriebe der eisenschaffenden und eisenverarbeitenden Industrie an der Ruhr wieder ihre Tore.

Severings Schiedsspruch erging am 21. Dezember 1928. Die darin vorgesehenen Lohnerhöhungen blieben weit hinter den Joetten-Vorgaben zurück. Die Zeitlöhner sollten statt sechs zwischen einem und sechs Pfennig pro Stunde mehr erhalten. Die Akkordarbeiter bekamen keine Zulage zugesprochen, die Akkordsicherung wurde von Severing aber angehoben. Eine generelle Arbeitszeitverkürzung wurde nicht eingeführt, für einige Arbeitergruppe wurde die zulässige Arbeitszeit jedoch deutlich reduziert. Der Joetten-Stichentscheid sollte vom Tag der Wiederaufnahme der Arbeit, dem 3. Dezember 1928 bis zum 31. Dezember des Jahres gelten. Von den Gewerkschaften, die dem Spruch wenig Erfreuliches abgewinnen konnten, wurde dieser Punkt durchaus als Erfolg gewertet.

Die Arbeitgeber, so vermittelte es jedenfalls die "Deutsche Bergwerkszeitung", ein Blatt der Ruhrunternehmer, hielten Severings "pädagogische Lektion" für "ein starkes Stück". Das Reichsarbeitsgericht gab ihnen recht, indem es am 22. Januar 1929 in letzter Instanz entschied, daß der Joetten- Schiedsspruch aus mehreren Gründen nichtig gewesen sei. Außerdem erklärten die Richter Stichentscheide generell für unzulässig. Der Anwalt und DMV- Funktionär Ernst Fraenkel urteilte rückblickend: "Der eigentliche Unterlegene des Ruhreisenstreits war das Reichsarbeitsministerium, dem attestiert wurde, daß es eine nichtige Ausführungsverordnung erlassen, einen aus doppeltem Grund rechtswidrigen Schiedsspruch zugelassen und für verbindlich erklärt und sich bei Handhabung seiner Schlichtungspraxis generell von rechtsirrigen Ansichten habe leiten lassen."

Doch obwohl die Unternehmer vorm Reichsarbeitsgericht Recht bekamen, erreichten sie ihr Ziel im Ruhreisenstreit, die Abschaffung der Zwangsschlichtung, nicht. 1931 wurde durch eine Notverordnung dem Staat wieder die Möglichkeit gegeben, auch ohne die Zustimmung der Tarifparteien Schiedssprüche zu fällen.

Für die Gewerkschaften bedeutete der Ausgang des Machtkampfes einen Pyrrhussieg. "Falsche Frontstellungen" machte Ernst Fraenkel aus. Die Schwerindustrie habe sich als Vorkämpfer des autonomen Arbeitsrechtes aufgespielt, die Gewerkschaften hätten dagegen das Recht des Staates anerkannt, Löhne und andere Arbeitsbedingungen zu bestimmen. Aber die Gewerkschaften wußten, daß die Alternative zur Zwangsschlichtung kaum die Tarifautonomie sein würde. Ein großer Teil der Unternehmer lehnte die Tarifpartnerschaft ab, und in den wirtschaftlichen Krisenzeiten der Weimarer Republik fühlten sich die Arbeitnehmervertretungen nicht stark genug, sie zu deren Anerkennung zu zwingen. Vor allem deshalb erschien ihnen die staatliche Schlichtung vorteilhaft.

Astrid Brand, 1988
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