Jesuiten wurden der Anstiftung beschuldigt

Erster Massenstreik der Ruhrbergleute endete 1872 erfolglos

"Zufriedene Kinder verlangen nichts, aber sie erhalten auch nichts." So erklärte Heinrich Imbusch, Funktionär des Gewerkvereins christlicher Bergarbeiter, in einer historischen Darstellung von 1908, warum der Kohlenboom nach der Gründung des Deutschen Reiches 1871 den Kumpeln keine volleren Lohntüten bescherte. Schließlich wurden die "Kinder" dann doch unzufrieden. Am 17. Juni 1872 begann der erste Massenstreik der Ruhrbergleute.

Die Ausgangslage schien günstig. Im Jahr zuvor hatten die Zechen außergewöhnliche Gewinne gemacht. Die Aktionäre erzielten glänzende Dividenden. Borussia zum Beispiel zahlte 1871 stolze 30 Prozent, die Bergbaugesellschaft Holland 22 Prozent, die Arenbergsche Aktiengesellschaft 20 Prozent. Bei den anderen Unternehmen wurden ähnlich hohe Gewinnanteile ausgeschüttet. Zugleich hatten die Firmen beträchtliche Abschreibungen vorgenommen. Fieberhaft wurde nach Expansionsmöglichkeiten gesucht. Der Wissenschaftler Franz Geueke resümierte 1912: "Ende 1871 und Anfang 1872 herrschte auf der ganzen nördlichen Linie des rheinisch-westfälischen Industriebezirkes über die Emscher hinaus bis zur Lippe eine Tätigkeit in bergbaulichen Unternehmungen, wie sie bis dahin trotz der hohen Entwicklungsstufe, auf welcher der Bergbau angelangt war, beispiellos dastand."

Was die Aktienkurse steil in die Höhe trieb, brachte den Bergarbeitern vor allem Nachteile. Um die immense Nachfrage zu befriedigen, wurden zahlreiche Überschichten gefahren. Die Unfallziffern stiegen, weil die durch die Mehrarbeit aufgeriebenen Kumpel den harten Bedingungen unter Tage weniger gewachsen waren. Auch der Einsatz unerfahrener Kräfte trug dazu bei, daß die Arbeit im Bergwerk noch gefährlicher wurde. Die ökonomische Situation der Bergleute wurde hauptsächlich durch die Verhältnisse auf dem Wohnungsmarkt beeinträchtigt. In ihrem Bericht für das Jahr 1871 urteilte die Essener Handelskammer: "Im Verhältnis zu dem rapiden Wachsen der Einwohnerzahl steht leider die Bautätigkeit sehr zurück und macht sich der Mangel an Wohnungen, speziell für die Arbeiter besonders in Essen und den Bürgermeistereien Altenessen und Borbeck ganz empfindlich fühlbar. Im Zusammenhange damit stehen die enormen Preissteigerungen des Grundes und des Bodens und der Mieten, die stellweise geradezu außerordentlich genannt werden dürfen." Erhöht hatten sich auch die Lebensmittelkosten. Die Löhne der Bergleute hielten mit dieser Entwicklung nicht Schritt. Sie stiegen zwar leicht, aber ein großer Teil des Zugewinns wurde durch Mehrarbeit erzielt.

Die Unzufriedenheit mit den Arbeitsverhältnissen und den Einkommen veranlaßte die Teilnehmer einer Bergarbeiterversammlung in Essen am 20. Mai 1872 zum Handeln. Sie beschlossen, von jeder Zeche der Region drei Delegierte zu wählen, die den Werksverwaltungen eine Eingabe überreichen sollten. Deren Inhalt wurde wenig später, am 2. Juni, auf einer Konferenz, ebenfalls in Essen, festgelegt: Vom "wohllöblichen Grubenvorstand" der jeweiligen Zeche forderte das "Komitee der vereinigten Bergleute Essens und Umgegend" eine Lohnerhöhung um 25 Prozent, achtstündige Schichten inklusive Ein- und Ausfahrt, die Abschaffung des Beiladens (einer Praxis, wonach nicht ganz volle Förderwagen auf Kosten der Bergleute gefüllt wurden) und die Abgabe von Brandkohlen zu einem günstigen Preis. Außerdem wurden die "geehrten Repräsentanten der vereinigten Zechen Essens und Umgegend" "ganz ergebenst ersucht, eine Versammlung anzuberaumen und aus ihrer Mitte gleichfalls ein Komitee zu wählen, welches mit dem von den Bergleuten gewählten und autorisierten Komitee bis zum 15. Juni zu verhandeln hat".

Die Antwort der Unternehmer war eindeutig. Am 7. Juni 1872 beschlossen die Zechenbesitzer auf einer Versammlung ein gemeinsames Statement: "Die Vorstände und Verwaltungen der unterzeichneten Zechen erklären hierdurch übereinstimmend den Belegschaften, daß sie weder mit dem sogenannten Zentralkomitee noch mit den von demselben abgesandten Spezialkomitees in Verhandlungen treten, noch die von ihnen gestellten Forderungen bewilligen können."

Nachdem das Ultimatum der Bergarbeiterführer abgelaufen war, wurde am 16. Juni 1872 der Streik ausgerufen. Am nächsten Tag arbeiteten in 34 Essener Gruben nur 2306 Mann, am 15. Juni waren es 14935 gewesen, wie der Historiker Klaus Tenfelde ermittelte. In der zweiten Streikwoche schmolzen die Belegschaften dieser Zechen sogar auf nur 984 Streikbrecher. Außerhalb des Essener Reviers war die Beteiligung an dem Ausstand jedoch verhältnismäßig gering, obwohl die Initiatoren sich eifrig um eine regionale Ausweitung bemühten und Agitatoren in die benachbarten Reviere schickten. Den meisten Erfolg hatten sie im Mülheimer und Oberhausener Gebiet. Insgesamt streikten auf dem Höhepunkt der Bewegung, in der zweiten Streikwoche, vermutlich rund 21000 Bergleute. Finanzielle Unterstützung erhielten sie nicht, es gab keine Streikkassen.

Trotz dieser unerwarteten Solidarität der Zechenbelegschaften blieben die Unternehmer bei ihrer Verweigerungshaltung, unterstützt von den Behörden und der Presse, die für Kampagnen gegen die streikenden Bergarbeiter bereitwillig ihre Spalten zur Verfügung stellte. Eine besondere Note verlieh dem Ausstand die Verknüpfung mit dem "Kulturkampf", dem Angriff des Reichskanzlers Otto von Bismarck auf die Privilegien der Kirche und auf den politischen Katholizismus. In historischen Werken findet er sich häufiger als "Jesuitenstreik". In einer Rede vor dem Zechenbesitzerverein behauptete der Vorsitzende Friedrich Hammacher, daß die Bergleute von Geistlichen aufgehetzt worden seien. "Es ist ... offenkundige Tatsache", so Hammacher, "daß mehrere Kapläne der hiesigen Gegend unter dem Vorwand, für das Wohl der arbeitenden Klasse zu sorgen, ihren Einfluß auf Arbeiterkreise zur Anregung der Klassenunzufriedenheit und des Klassenhasses benutzt haben. Ein unmittelbarer Zusammenhang ihrer und der Jesuiten Tätigkeit mit der gegenwärtigen Arbeitseinstellung ist nicht nachzuweisen. Aber darüber herrscht in unserer ganzen Gegend kein Zweifel, daß der Geist der Unzufriedenheit und des tiefen Mißbehagens, welcher unter den Arbeitern Essens und der Umgegend herrscht, wesentlich auf ihren Einfluß zurückgeführt werden muß."

Völlig falsch lag Hammacher mit seiner Einschätzung über die Ursachen des Ausstandes nicht. Die Bildungsarbeit gerade mancher jüngerer katholischen Geistlichen wird sicher dazu beigetragen haben, daß den Bergarbeitern die Möglichkeiten zur Durchsetzung ihrer Interessen deutlich wurden. Ein direkter Einfluß auf den Streik läßt sich aber nicht nachweisen, von der Kirche wurde er auch energisch bestritten.

Die Sozialdemokraten, die ebenso wie die Geistlichkeit beschuldigt wurden, den Ausstand anzuführen, bemühten sich zwar offensichtlich um die Streikenden - aber häufig vergeblich. Ihr Einfluß im Revier war seit dem Ende der sechziger Jahre schnell zurückgegangen, die Christlich-Sozialen fanden bei den Bergleuten mehr Anklang als die religionsfeindlichen Lassalleaner. In Hörde, inzwischen ein Stadtteil von Dortmund, bezog der Sozialdemokrat Carl Wilhelm Tölcke sogar Prügel, als er dort am 28. Juni 1872 auf einer Versammlung für eine Ausweitung des Arbeitskampfes werben wollte. Die Kampagnen der Lokalpresse gegen die "große Tölckerei" blieben nicht ohne Wirkung. "Gut wird es sein, wenn die Neugierigen die Versammlung nur mit handfesten Knitteln besuchen", verbreitete das Hörder Volksblatt, denn die Sozialdemokraten "sind die Unruhestifter in jedem Lande; mit Petroleum, Pulver und Dolchen bemühen sie sich, alles Edle, was die Zeit geschaffen, zu vernichten, das Eigenthum aufzuheben, die Gesetze zu durchbrechen, die Familienbande zu zerschneiden, sowie die Altäre und Throne zu verbrennen. Diesen Zwecken sollen die Bergleute dienen, welche die Arbeit einstellen..."

Jesuiten und Sozialdemokraten hätten den Streik angezettelt. Für die Unternehmer und ihre Verbündeten war das eine bequeme Erklärung, die zudem noch agitatorisch zur Begrenzung des Ausstandes genutzt werden konnte. Sie entsprach jedoch nicht der Wirklichkeit. Der Arbeitskampf war eine überwiegend autonome Bewegung der Bergarbeiterschaft, die mißtrauisch darüber wachte, nicht von anderen Gruppen eingespannt zu werden. Das zeigte sich schon auf der Versammlung am 20. Mai 1872. Rederecht hatten nur Bergleute. Führer der Bewegung waren, so Otto Hue, Funktionär des Deutschen Bergarbeiterverbandes, in einem Geschichtsbuch aus dem Jahr 1913, "gerade die bestentlohnten Hauer". Seine Erklärung: "Es ist eine tausendfältig gemachte Erfahrung, daß nicht die in größter Armut verkümmernden, sondern die zu verhältnismäßigem Wohlstand gelangen Volksschichten bewußt kulturfördernd wirken." Die umsichtige Streikleitung der Arbeiteraristokratie bewirkte den ungewöhnlich friedlichen Verlauf des Ausstandes.

Er dauerte immerhin ungefähr fast sechs Wochen. Mitte Juli bröckelte die Streikfront stark ab, am 27. des Monats fehlten nur noch rund 1500 Bergarbeiter. Einen Tag später erklärte das Streikkomitee das Ende des Ausstandes.

Mit ihrem entbehrungsreichen Kampf hatten die Bergarbeiter fast nichts erreicht. Einige Zechenbesitzer hatten kleine Zugeständnisse gemacht, die Mehrheit hielt ihre Verweigerungstaktik bis zuletzt konsequent durch.

Für den Mißerfolg war besonders die enge regionale Begrenzung des Streiks auf das Essener Revier und das Fehlen von Streikkassen verantwortlich. Für längere Auseinandersetzungen mit den Arbeitgebern waren die Bergarbeiter nur unzureichend gerüstet, das hatte ihnen der Streik gezeigt. Im Herbst gründeten sie deshalb den Rheinisch-Westfälischen Grubenarbeiterverband, der jedoch von den Behörden nicht genehmigt wurde. "Er schlief ein, ehe er recht gelebt hatte", lautet Hues Fazit über die zweite gewerkschaftliche Organisation der Ruhrbergleute.

Astrid Brand, 1987
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