Vom Volksauflauf zum (politischen) Volksfest

Die deutsche Geschichte des Maifeiertags

Musik, Büchertische, Sport und Spiel für die Kinder, Dönerbuden und Demonstrationen, politische Reden, Transparente – mit Vielfalt präsentieren sich die Gewerkschaften in Deutschland am 1. Mai. Wegen des schwindenden Interesses an den Maifeiern zweifeln manche Gewerkschafter aber, ob diese überhaupt noch zeitgemäß seien. Mit dem Verzicht ginge ein Seismograf für Stimmungen und gesellschaftliche Umbrüche verloren. Im Jahr 2000 verzeichnet die wechselvolle bis dramatische deutsche Geschichte des Maifeiertags mehrere Jubiläen.

Vor 110 Jahren, 1890, wurde zum ersten Mal an diesem Datum in Mitteleuropa demonstriert. Nach der Gründung der BRD und der DDR versammelten sich vor 50 Jahren am 1. Mai die Gewerkschafter zum ersten Mal in zwei deutschen Staaten. Und vor 10 Jahren, als die Überwindung der Teilung Deutschlands schon nah war, beteiligten sich DGB-Gewerkschafter an freien Maifeiern in Ostdeutschland; in Berlin gab es eine gemeinsame Kundgebung für die Menschen aus beiden Teilen der Stadt.

Der Geburtsort des Maifeiertags ist Paris, wo die Menschen aufgeschlossener zu sein scheinen für umwälzende Ideen als an anderen Orten. Führende Sozialisten Frankreichs hatten zum 14. Juli 1889 in die Seinemetropole zu einem internationalen Arbeiterkongress eingeladen. Der Geburtstag der Französischen Revolution wurde zelebriert, ein Jahrhundert zuvor begann sie an jenem Datum mit dem Sturm auf die Bastille, das Staatsgefängnis. Rund 390 Delegierte von Arbeiterparteien, Gewerkschaften und anderen sozialistischen Gruppen aus fast allen europäischen Staaten, den USA und Argentinien gründeten die Zweite (Sozialistische) Internationale, und auf der letzten Sitzung des Kongresses am 20. Juli riefen sie zu weltweiten Demonstrationen am 1. Mai 1890 auf.

Am Nachmittag hatte der französische Gewerkschafter Raymond Lavigne die Delegierten mit einem Resolutionsentwurf überrascht. An dessen Abfassung waren auch die deutschen Abgesandten August Bebel und Wilhelm Liebknecht beteiligt. Das Protokoll: "Es ist für einen bestimmten Zeitpunkt eine große internationale Manifestation (Kundgebung) zu organisiren, und zwar dergestalt, daß gleichzeitig in allen Ländern und in allen Städten an einem bestimmten Tage die Arbeiter an die öffentlichen Gewalten (Behörden) die Forderung richten, den Arbeitstag auf acht Stunden festzusetzen und die übrigen Beschlüsse des internationalen Congresses von Paris zur Ausführung zu bringen.

In Anbetracht der Thatsache, daß eine solche Kundgebung bereits von dem Amerikanischen Arbeiterbund (Federation of Labor) auf seinem im Dezember 1888 in St. Louis abgehaltenen Congreß für den 1. Mai 1890 beschlossen worden ist, wird dieser Zeitpunkt als Tag der internationalen Kundgebung angenommen. Die Arbeiter der verschiedenen Nationen haben die Kundgebung in der Art und Weise, wie sie ihnen durch die Verhältnisse ihres Landes vorgeschrieben wird, in 's Werk zu setzen." Nach kurzer Diskussion wurde der Antrag beschlossen.

In den USA hatte der 1. Mai als Kampftag der Arbeiterschaft schon Tradition, keine lange zwar, aber doch eine bedeutende. Der Erste des Wonnemonats war dort als sogenannter Moving Day Stichtag für den Abschluss von Verträgen und einiges anderes, für die Beschäftigten somit ein Datum, an dem ihre Arbeitsbedingungen festgelegt wurden. Die Aktionen der amerikanischen Gewerkschaftsbewegung konzentrierten sich deshalb auf diesen Tag. So gelang den Holzarbeitern in San Francisco am 1. Mai 1883 die Durchsetzung des Neun-Stunden-Arbeitstages, ein Jahr danach hatten die Kollegen in Los Angeles gleichgezogen. Am 1. Mai 1886 begann in einigen industriellen Zentren der USA ein mehrtägiger Generalstreik für die Einführung des Acht-Stunden-Arbeitstages, an dem sich ungefähr 350.000 Beschäftigte beteiligt haben sollen. Für etwa 200.000 Arbeitnehmer wurde der Ausstand zu einem vollen Erfolg. In Chicago kam es jedoch zu erbitterten Auseinandersetzungen, bei den Kämpfen gab es Tote, darunter auch Polizisten, und mehrere Arbeiterführer wurden wegen Mordes angeklagt und nach einem dubiosen Prozess hingerichtet: kein Justizirrtum, sondern Justizmord. 1888 beschlossen die amerikanischen Gewerkschaften, den 1. Mai 1890 erneut zu einem Kampftag für die achtstündige tägliche Arbeitszeit zu gestalten. Durch die Resolution des Pariser Kongresses vom Jahr 1889 wurde dieses Datum die Geburtsstunde des 1. Mai als Kampf- und Feiertag der Arbeiterbewegung.

Im Deutschen Reich galt am 1. Mai 1890 noch das "Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie" von 1878, mit dem Reichskanzler Otto von Bismarck die Arbeiterbewegung vernichten wollte, indem er sie weitgehend in die Illegalität drängte. Um keine erneute Verlängerung des gesetzlichen Knebels zu provozieren, hatte die sozialdemokratische Reichstagsfraktion von einer allgemeinen Arbeitsruhe am 1. Mai 1890 abgeraten. In einigen Städten setzte sich die Parteilinie nicht durch, Zehntausende legten die Arbeit nieder und demonstrierten, viele von ihnen wurden deshalb zeitweise ausgesperrt. In Hamburg hatte der Streik katastrophale Folgen. Die Unternehmer reagierten mit Massenaussperrungen. Der Konflikt eskalierte und zog sich über Wochen hin. Die Kassen der Gewerkschaften waren am Ende trotz eindrucksvoller Solidaritätsaktionen leer und die Mitgliederzahlen stark geschrumpft.

Im folgenden Jahr empfahl die sozialdemokratische Reichstagsfraktion in einem Aufruf, "die Maifeier am ersten Sonntag im Mai zu begehen und weiter dahin zu wirken, daß auch für die Zukunft der gleiche Tag festgehalten wird". Der Vorschlag wurde für gut befunden. Die Maikundgebungen am Sonntag verzeichneten Massenandrang. Aber zufrieden waren die Teilnehmer mit dieser Lösung nicht.

Auf einem Parteitag der SPD vom 11. bis 16. Oktober 1896 in Gotha erklären die Delegierten in einer Resolution, dass die Sozialdemokratie den 1. Mai feiert "als das Weltfest der Arbeit, gewidmet den Klassenforderungen des Proletariats, der Verbrüderung und dem Weltfrieden. Als würdigste Feier des 1. Mai betrachtet die Partei die allgemeine Arbeitsruhe. Der Parteitag macht es daher den Arbeitern und Arbeiterorganisationen zur Pflicht, neben den anderen Kundgebungen für die allgemeine Arbeitsruhe am 1. Mai einzutreten, und überall da, wo die Möglichkeit der Arbeitsruhe vorhanden ist, die Arbeit am 1. Mai ruhen zu lassen."

Wo ein Wille ist, ist meistens ein Weg, oft einer mit Hindernissen. Auf dem Marsch zur allgemeinen Arbeitsruhe ging es nur allmählich und mit wechselnder Geschwindigkeit voran. Am 1. Mai 1906 beteiligten sich mehr Menschen als je zuvor an den Kundgebungen des Tages. Allein in Berlin waren etwa 115.000 Beschäftigte zeitweise nicht an ihrem Arbeitsplatz. Reichsweit wurden ungefähr 49.000, die ihre Arbeit niederlegten, danach von den Unternehmern ausgesperrt. Auch in den folgenden Jahren waren die Teilnehmerzahlen ermutigend. Einen Rückschlag brachte das Jahr 1914. Die Maifeiern zogen erheblich weniger Menschen an. Eine relativ ungünstige Arbeitsmarktsituation trug dazu bei. Weil die Maikundgebungen seit 1910 besonders eindrucksvoll ausgefallen waren, wurde sogar von einem "schmerzvollen Absterben" gesprochen.

Im Ersten Weltkrieg empfahlen die Gewerkschaften und die SPD für den 1. Mai den Verzicht auf Arbeitsniederlegungen. 1916 rief die von ehemaligen Sozialdemokraten gegründete Spartakusgruppe mit illegalen Plakaten und Flugblättern zu Demonstrationen auf. In mehreren Städten kam es zu Kundgebungen. Die größte war in Berlin, wo sich am Abend vielleicht 10.000 Menschen versammelten. "Nieder mit dem Krieg! Nieder mit der Regierung!" mahnte der bekannte Antimilitarist Karl Liebknecht, der wegen der Demonstration, die er mitorganisiert hatte, zu einer mehrjährigen Zuchthausstrafe verurteilt wurde.

Nachdem die so genannte Novemberrevolution 1918 die Monarchie in Deutschland zur Geschichte machte und der Krieg beendet war, begann auch für den Maifeiertag ein neues Kapitel. Am 15. April 1919 beschloss die Weimarer Nationalversammlung mit einem Gesetz, den 1. Mai 1919 als allgemeinen Feiertag zu begehen. In den folgenden Jahren scheiterten Vorstöße, ihn reichsweit als gesetzlichen Feiertag zu etablieren. Erfolgreich war man nur in einigen Ländern: in Braunschweig (hier wurde er 1931 wieder abgeschafft), in Hamburg, Lübeck, Sachsen und Schaumburg-Lippe.

Während am 1. Mai 1919 im übrigen Deutschland gefeiert wurde, kam es in München zu einem Blutbad mit mehr als 1000 Toten. Reichstruppen zerschlugen die Bayerische Räterepublik, die am 7. April proklamiert worden war. An ihrer Spitze standen zunächst die Anarchisten, die aber schon nach sechs Tagen von den Kommunisten entmachtet wurden.

Die Maifeiern in der Weimarer Republik wurden durch die Spaltung der Arbeiterbewegung geprägt. Sozialdemokraten, Kommunisten und andere politische Richtungen veranstalteten mit den ihnen nahestehenden Gewerkschaften meistens eigene Kundgebungen und Demonstrationszüge.

Nach der "Machtergreifung" der Nationalsozialisten wurde der 1. Mai am 10. April 1933 per Gesetz zum bezahlten "Feiertag der nationalen Arbeit". Die Premiere wenige Tage später inszenierten die braunen Machthaber als gigantisches Massenspektakel. "Der 1. Mai wird ein Massenereignis, wie es die Welt noch nicht gesehen hat", hatte der Organisator, Reichsminister Joseph Goebbels, in seinem Tagebuch geprahlt. Gewerkschaften und Arbeiterparteien, die ehemaligen Träger des Maifeiertages, waren von der Gestaltung der offiziellen Kundgebungen ausgeschlossen.

"Ehret die Arbeit, achtet den Arbeiter", proklamierte Reichskanzler Adolf Hitler am 1. Mai 1933 vor Hunderttausenden von Menschen bei der Hauptkundgebung auf dem Tempelhofer Feld in Berlin und präsentierte die neuen Herren als die Verfechter der wahren Interessen der gesamten Bevölkerung. "Das Symbol des Klassenkampfes, des ewigen Streites und Haders, es wird sich nunmehr verwandeln zum Symbol der großen Einigung unseres Volkes", schwärmte der "Führer".

Die Kulisse war prachtvoll. Tagelang hatte Goebbels die Maiveranstaltungen vorbereitet, sogar Generalproben abgehalten. Als Ehrengast beobachtete der französische Botschafter André François-Poncet die Hauptkundgebung am Abend des 1. Mai: "Beim Hereinbrechen der Nacht durchziehen dichte Kolonnen die Straßen von Berlin in schöner Ordnung, im Gleichschritt, Schilder werden vorangetragen, Pfeifergruppen, Musikkapellen spielen, so zieht man zum Versammlungsort; ein Bild wie beim Einzug der Zünfte in den Meistersingern! Alle stellen sich an den ihnen zugewiesenen Plätzen auf dem weiten Feld auf. ... Ein rotschimmerndes Meer von Fahnen schließt im Hintergrund das Bild ab. Gleich dem Bug eines Schiffes erhebt sich vorn eine Tribüne, mit zahlreichen Mikrophonen besetzt, unter der die Menge brandet: Die Reihen der Reichswehreinheiten, dahinter eine Million Männer. SA und SS wachen über die strenge Ordnung bei diesem gewaltigen Treffen. ... Alles atmet gute, frohe Stimmung, allgemeine Freude. Nichts erinnert an Zwang."

Mochte es in dem Jubel der Nazianhänger auch untergehen - nicht alle Teilnehmer dieser Massendemonstration waren freiwillig dabei. Besonders die Beschäftigten der Staatsbetriebe und Behörden mussten mit der Entlassung rechnen, wenn sie sich ausschlossen.

Allenfalls Statisten konnten die Funktionäre und Mitglieder der Gewerkschaften sein; die Verbände, mit Ausnahme der kommunistischen, hatten trotzdem die Teilnahme an den staatlich verordneten Maifeiern empfohlen. Als Sündenfall gilt im Rückblick vor allem der Aufruf des sozialdemokratisch orientierten Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes (ADGB), dessen sogenannte Freie Gewerkschaften die meisten Arbeitnehmer organisiert hatten. Mit einer vorsichtigen Anpassungspolitik versuchten die Freien wie die Christlichen und die liberalen Hirsch-Dunckerschen Gewerkschaften das Überleben ihrer Verbände nach der sogenannten Machtergreifung durch die Nationalsozialisten zu gewährleisten. Und unter dem Druck von außen kamen sie sich näher. Am 28. April 1933 erklärten die gewerkschaftlichen Spitzenverbände in einem Abkommen ihre Absicht, sich zusammen zu schließen. Ein "Führerkreis" sollte die Vereinigung vorbereiten. Die Spaltung der Arbeiterbewegung war als eine Schwäche erkannt worden.

Viele Gewerkschafter verweigerten sich den nationalsozialistischen Aufmärschen. In zahlreichen Orten fanden 1933 illegale Feiern und Aktionen statt - wie auch in den weiteren Jahren der Naziherrschaft. Etliche Gewerkschafter und Mitglieder der Arbeiterparteien "feierten" den 1. Mai im "Dritten Reich" hinter den Mauern von Gefängnissen, Zuchthäusern und Konzentrationslagern.

Einen Tag nach der vom französischen Botschafter gepriesenen Inszenierung übernahmen die Nationalsozialisten die Freien Gewerkschaften gewaltsam. Am 2. Mai 1933 wurden Gewerkschaftshäuser gestürmt, Funktionäre verhaftet, viele gefoltert, einige ermordet. Den anderen Arbeitnehmerorganisationen blieb noch eine Schonfrist von wenigen Wochen. Die Taktik der Gewerkschaften war nicht aufgegangen, und später wurde ihnen zum Vorwurf gemacht, diesen Weg der Anpassung gegangen zu sein. Doch damals erschien er vielen als der richtige. Die Verfolgung durch den Staat war keine neue Erfahrung für Gewerkschafter. Von 1878 bis 1890 hatte Reichskanzler Bismarck sie durch das Sozialistengesetz geknebelt. Es war nicht abzusehen, wie lange die Nationalsozialisten in Deutschland herrschen würden. Eine Unterwerfung bedeutete dieser Kurs der Gewerkschaften nicht, vor allem durch verbale Zugeständnisse wollten sie ihre demokratisch strukturierten Organisationen unter widrigen Umständen erhalten. Das wussten auch die Nazis, und deshalb wurden die Gewerkschaften zerschlagen. Der Zeitpunkt war gut gewählt. Am 1. Mai 1933 gerierten sich die Machthaber als die wahren Interessenvertreter der Arbeitnehmer, am Tag darauf und in den nächsten Wochen nahmen sie ihnen ihre Organisationen.

Am 27. Februar 1934 machte ein Gesetz den 1. Mai zum "nationalen Feiertag des deutschen Volkes".

Erst nach dem Zweiten Weltkrieg konnte am 1. Mai wieder ohne Angst vor brutaler Verfolgung in der Tradition der Arbeitnehmerbewegung gefeiert werden. Die zerschlagenen Gewerkschaften entstanden neu. Auf einem Kongress vom 9. bis 11. Februar 1946 wurde in Berlin der Freie Deutsche Gewerkschaftsbund (FDGB) für die sowjetische Besatzungszone gegründet. Er präsentierte sich als überparteilich, wurde aber von den Kommunisten beherrscht. Auch in den Westzonen entstanden Einheitsgewerkschaften. Dort war den Gewerkschaftern bei der Gründung von Organisationen jedoch ein zeitraubender "Aufbau von unten nach oben" vorgeschrieben worden. Mit großen Maikundgebungen knüpften die Gewerkschaften 1946 im befreiten Deutschland an die alte Tradition an.

Die politische Teilung Deutschlands und die unterschiedliche Entwicklung der Gewerkschaften in Ost und West prägte auch die Geschichte des Maifeiertags. Und an keinem Ort war das offensichtlicher als in Berlin. Getrennt marschierten die Gewerkschafter in dieser Stadt am 1. Mai schon vor der Grenzziehung in ihrem Zentrum.

Sowjetische Truppen hatten 1945 als Erste Berliner Boden besetzt, und sie gaben auch das Tempo und die Richtung für den Wiederaufbau der von den Nationalsozialisten zerschlagenen Gewerkschaftsbewegung vor. Am 17. Juni 1945 wurde der Freie Deutsche Gewerkschaftsbund (FDGB) Groß-Berlin gegründet. Seine Eingliederung in den FDGB der sowjetisch besetzten Zone scheiterte am Einspruch des französischen Kommandanten. In beiden Bünden gaben Kommunisten den Ton an. Intensive Kaderarbeit, Wahlmanipulationen, Hilfe der sowjetischen Besatzungsmacht – das war ihr Erfolgsrezept, mit dem sie sich Mehrheiten verschafften. Durch die Zwangsvereinigung von KPD und SPD zur Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) im April 1946 steigerten sie ihren Einfluss noch. In den Westbezirken Berlins sprachen sich die SPD-Mitglieder in einer Urabstimmung gegen den Zusammenschluss aus, die Partei blieb dort selbständig. Das war der Anfang vom Ende der gewerkschaftlichen Einheit.

Bald wollten viele Gewerkschafter das Übergewicht der SED im FDGB Groß-Berlin nicht mehr hinnehmen. Im Frühjahr 1948 gründeten Mitglieder von SPD, CDU und LDP (jetzt FDP) sowie Parteilose die Arbeitsgemeinschaft Unabhängige Gewerkschaftsopposition (UGO). Sie verlangte im Vorstand des FDGB Groß-Berlin eine überparteiliche Maikundgebung, und weil die verweigert wurde, organisierte sie eine eigene Demonstration. Rund 150.000 Menschen folgten ihrem Aufruf und versammelten sich auf dem Platz der Republik. Der FDGB scharte im Lustgarten mehr als eine halbe Million um sich. Am 1. Mai 1949 war die Einheitsgewerkschaft in der Stadt zerbrochen, die UGO hatte den Westen "erobert", der FDGB den Osten gehalten. Marschiert wurde wieder getrennt. Am 1. Mai 1950 waren die BRD und die DDR gegründet worden. West-Berlin gehörte staatsrechtlich zur Bundesrepublik, nahm aber eine Sonderstellung ein. Ost-Berlin war Regierungssitz der DDR. Ungefähr 600.000 Frauen und Männer demonstrierten am 1. Mai auf dem Platz der Republik "gegen ‚Einheit‘ in Ketten" und "für Frieden in Freiheit", wie es im Aufruf des West-Berliner Maikomitees hieß. Die UGO schloss sich noch im selben Jahr als Landesbezirk an den DGB an. Im Ostteil der Stadt zogen etwa 800.000 Menschen an der Ehrentribüne im Lustgarten vorbei.

Im Westen und im Osten Deutschlands entwickelten sich die Gewerkschaften auseinander. Der FDGB wurde zum Transmissionsriemen der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, unterstützte sie, ihre gesellschaftspolitischen Vorstellungen umzusetzen. Mehr und mehr wandelten sich der FDGB und seine unselbständigen Gewerkschaften von Organisationen, die die Interessen der Arbeitnehmerbasis vertreten, zu Handlangern der DDR-Regierungen. Die traditionelle Lohntarifpolitik, etwa, gaben sie auf, die Löhne wurden in der DDR weitgehend staatlich festgelegt. Die Umkehrung ihrer Tätigkeiten ging sogar so weit, dass sie, statt für niedrige Akkordsätze zu kämpfen, deren Erhöhung propagierten. Auf der anderen Seite erhielt die Gewerkschaftsbewegung in der DDR Funktionen, die in der Bundesrepublik Deutschland Selbstverwaltungskörperschaften oder der Staat erfüllen. So wurde beispielsweise die Sozialversicherung vom FDGB geleitet. Die Beteiligung des FDGB in vielen staatlichen Gremien war institutionell verankert und die personelle Verflechtung zwischen der Gewerkschaftsbewegung und der SED stark ausgeprägt.

Bei den Maifeiern wurden die Unterschiede zwischen den Gewerkschaftsbewegungen in Deutschland vorgeführt. In der DDR sollte an jenem Tag die Einheit von Regierenden und Regierten demonstriert werden, wobei die Regierenden oft mit sanftem Druck die Regierten zum Aufmarsch trieben. Für die Gewerkschaften der Bundesrepublik bietet der 1. Mai dagegen einen willkommenen Anlass, auf die Wünsche und Hoffnungen ihrer Mitglieder öffentlich aufmerksam zu machen. Damit die Menge der Teilnehmer dem Nachdruck verleiht, sollen neue Ideen die alte Tradition beleben. Politische Volksfeste organisieren viele DGB-Kreise am 1. Mai – mit Attraktionen auch für Kinder, denn welcher Arbeitnehmer lässt seine Familie am Feiertag gern allein zu Haus? Mit einer Riesenfete ziehen die Ruhrfestspiele schon seit 1977 jedes Jahr am Ersten des Wonnemonats Massen nach Recklinghausen. Als 1914 weniger Menschen als in den Jahren zuvor am 1. Mai demonstriert hatten, wurde das "schmerzvolle Absterben" beklagt. Totgesagte leben länger.

Astrid Brand, 2000
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