Kranke Arbeiter forderten Gleichbehandlung

Der längste Streik in der Geschichte der BRD brachte Erfolg

"Sonntags besoffen - montags blau". So diffamierte ein flapsiger Unternehmer den Wunsch nach Lohnfortzahlung an kranke Arbeiter. In der Metallindustrie Schleswig-Holsteins wurde im längsten Streik in der Geschichte der Bundesrepublik für dieses Ziel gekämpft. Am 24. Oktober 1956 begann der Ausstand, nach 114 Tagen hatten die Metaller einen beachtlichen Erfolg errungen.

"Bei der Auszahlung der Streikunterstützung sind die jeweils höchsten Geldsorten auszuzahlen, damit zum Schluß kein Mangel an Klein- oder Wechselgeld eintritt... Nicht an Stelle eines Scheines zu fünfzig Mark fünf Scheine zu je zehn Mark auszahlen! ..." Bis ins Detail generalstabsmäßig geplant war der Arbeitskampf für die Verwirklichung von drei tarifpolitischen Forderungen:

Lohnausgleich bei Krankheit
längere Urlaubszeit
besonderes Urlaubsgeld.

Im Vordergrund der Auseinandersetzungen stand die Gleichbehandlung von kranken Arbeitern und Angestellten, eine grundsätzliche soziale Verbesserung.

Wegen dieser prinzipiellen Bedeutung schalteten die Unternehmer auf stur. Ob die IG Metall-Forderungen für die Branche finanziell tragbar waren, spielte kaum eine Rolle. Weil sie keine Zugeständnisse beim wichtigsten Gewerkschafts- Verlangen machen wollten, setzten der Arbeitgeberverband der Metallindustrie in den Kammerbezirken Kiel und Flensburg sowie der Verband der Eisen- und Metallindustrie in Schleswig-Holstein als Tarifparteien erst auf eine Verschleppungstaktik, dann auf Konfrontation. Am 20. Oktober 1956 lehnten sie die Anrufung einer freiwilligen Schlichtungsstelle ab. Die IG Metall setzte unmittelbar darauf den Streikbeginn fest: 24. Oktober 1956, 6 Uhr. Die Streikbereitschaft ihrer Mitglieder hatte sie schon am 11. und 12. des Monats in einer Urabstimmung ausgelotet. 77,5 Prozent der Teilnehmer befürworteten den Gebrauch der stärksten Waffe in dieser Tarifauseinandersetzung.

Am ersten Streiktag wurden jedoch nur 15 Betriebe stillgelegt. Die Gewerkschaftsführung hatte sich entschieden, den Arbeitskampf allmählich auszuweiten, von einer Industriegruppe zur nächsten. Die Zentrale Streikleitung mit dem Leiter des Bezirks Hamburg, Herbert Sührig, an der Spitze konnte sich bei den Funktionären jedoch nicht immer durchsetzen. So begann der Ausstand sowohl - wie geplant - in den Werften, deren Auftragsbücher besonders dick waren, als auch in einigen Maschinenfabriken. Bis zum 11. Januar erfaßte er weitere Unternehmen, vor allem Groß- und Mittelbetriebe. Rund 29 000 Streikende hatte die IG Metall am Ende der Tarifauseinandersetzung registriert.

Auf beiden Seiten war der Einsatz in diesem Arbeitskampf ungewöhnlich hoch. Die finanzielle Unterstützung der Streikenden war so gut, daß Gewerkschaftsgegner polemisierten, ihnen würde ein "voll bezahlter verlängerter Urlaub" gewährt. Außer dem Streikgeld bekamen sie Mietzuschüsse, verbilligte Mittagessen, Lebensmittelpakete, Kleiderspenden und ähnliches. Bei Schwierigkeiten mit der Rückzahlung von Krediten half die Bank für Gemeinwirtschaft. Einschließlich der Sonderzuwendungen erhielten die Streikenden im Durchschnitt ungefähr 70 bis 80 Prozent ihrer Nettolöhne.

Zur Information der Mitglieder erschienen fünfmal wöchentlich die vierseitigen "Streik- Nachrichten", dazu kamen Flugblätter, Versammlungen und Kundgebungen. Alles nicht nur an die Adresse der Streikenden gerichtet, sondern auch an die übrigen Familienangehörigen. Ebenso wie das Unterhaltungsprogramm mit sogenannten Streikrevuen, Film- und Theaterveranstaltungen, Hausfrauennachmittagen, Kinder- und Jugendfesten, Schachmeisterschaften. Besonders sorgsam umwarben die Organisatoren des Streiks die "besseren Hälften", getreu der verbreiteten Meinung, "man brauche sich um die Männer eigentlich gar nicht zu kümmern, solange man der Frauen sicher sei". Auch die Öffentlichkeitsarbeit wurde nicht vernachlässigt. Die Entscheidung, das Domizil der Zentralen Streikleitung in Kiel aufzuschlagen, erwies sich als richtig. Für eine positive Stimmungsmache bot die Landeshauptstadt, wo die wichtigen regionalen und überregionalen Medien präsent waren, einen günstigen Ausgangspunkt.

Bei solch intensiver Betreuung nahmen nur wenige der Streikenden, etwa 800, vorzeitig die Arbeit wieder auf, trotz massiver Werbung der Gegenseite. Die Streikfront stand fest, aber wer den Drohungen und Verlockungen der Arbeitgeber trotzdem erlag, wurde gnadenlos geächtet.

Solidarität schrieb in diesem Streik auch die Unternehmerseite groß. Über mangelnden Beistand konnte die schleswig-holsteinische Metallindustrie nicht klagen: Von Beginn an stärkte ihr der Gesamtverband der Metallindustriellen den Rücken, bestimmte auch weitgehend den harten Kurs. Schon im September 1956 ermahnte die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände ihre Mitglieder: "Ein nicht vom Arbeitskampf betroffener Unternehmer, der etwa die Lage eines durch den Streik in Lieferungsschwierigkeiten befindlichen Konkurrenten ausnutzt oder auf die streikbedingten Schwierigkeiten seines Geschäftspartners nicht die gebotene Rücksicht nimmt, verstößt nicht nur gröblichst gegen die elementaren Grundsätze unternehmerischer Solidarität, sondern er handelt auch kurzsichtig, indem er dazu beiträgt, das Fundament der unternehmerischen Wirtschaft - letztlich auch zu seinem eigenen Schaden - zu untergraben." Bei moralischen Druck ließen es die Arbeitgeberverbände jedoch nicht bewenden. Die Mitglieder erhielten bis zu 90 Prozent ihrer streikbedingten Ausfälle ersetzt. Nur in zwei Fällen gelang es der IG Metall, das starre Unternehmerlager aufzubrechen und Einzelverhandlungen zu führen.

Das Klima für Kompromisse war nicht gerade günstig in diesem Arbeitskampf. Den ersten Versuch, zwischen den Kontrahenten zu vermitteln, unternahm der Ministerpräsident Schleswig-Holsteins, Kai-Uwe von Hassel, der sich zwar "als ehrlicher Makler" pries, mit seinen öffentlichen Äußerungen über den Streik aber nicht als solcher qualifiziert hatte. Auch sein den Tarifparteien am 10. Dezember 1956 schriftlich zugestellter Vermittlungsvorschlag zeigte, zu welchem Lager der CDU-Mann tendierte. In der entscheidenden Frage der Lohnfortzahlung bei Krankheit vertröstete er die Arbeitnehmervertreter auf spätere Zeiten. Sie sollten auf eine bundesgesetzliche Regelung warten. Anmaßend forderte er von den Empfängern seines Einigungspapiers: "Die Tarifvertragsparteien bitte ich, mir bis zum Freitag, dem 14. dieses Monats, 13. Uhr, eine Erklärung zuzustellen, ob sie dem vorstehenden Vorschlag im Ganzen zustimmen." Während die Arbeitgeber bereitwillig akzeptierten, wies die IG Metall den Hassel-Plan zurück. "Es ist etwas Ungewöhnliches", antwortete Heinz Ruhnau im Auftrag der Zentralen Streikleitung dem Ministerpräsidenten, eine Vermittlung von der vorherigen Zustimmung zu einem Vorschlag abhängig zu machen..."

Nachdem er mit diesem Vorgehen gescheitert war, lud von Hassel die Tarifparteien am 21. Dezember 1956 zu einer gemeinsamen Besprechung ein, "um zu prüfen, ob sich Möglichkeiten zu Verhandlungen abzeichnen". Bei diesem Gespräch wurde die gemeinsame Anrufung der Schlichtungsstelle beschlossen. Die Schlichtungsstelle unter dem Vorsitz des Arbeitsrechtlers Professor Nikisch beendete Silvester 1956 ihre Verhandlungen, dem Einigungsvorschlag stimmten die gewerkschaftlichen Beisitzer nicht zu. Auch die zuständigen IG Metall-Gremien lehnten ihn ab, ebenso die Streikenden. 97,4 Prozent entschieden sich in einer Urabstimmung am 7. Januar 1957 für die Fortsetzung des Streiks.

Wenige Tage danach schaltete sich Bundeskanzler Konrad Adenauer ein und bat Vertreter beider Seiten nach Bonn. In der Bundeshauptstadt wurde unter dem Vorsitz des früheren Arbeitsministers von Nordrhein- Westfalen, Johannes Ernst erneut verhandelt. Am 25. Januar 1957 lag ein Tarifvertragsentwurf vor, den beide Parteien ihren Gremien zur Annahme empfahlen.

Vom Resultat der Urabstimmung am 30. Januar 1957 waren die Streikführer dann unangenehm überrascht. Die Mitglieder erteilten dem Vorstand und der Großen Tarifkommission der IG Metall, die sich - wenn auch knapp - für die Annahme des Verhandlungsergebnisses ausgesprochen hatten, eine Absage. Nur 21,4 Prozent folgten der Empfehlung, 76,2 Prozent der Abstimmenden votierten mit nein. Ein grundsätzliches Mißtrauen gegen die Unterhändler dokumentierte sich damit jedoch nicht; alle Anträge auf eine Umbesetzung der Streikleitung wurden abgelehnt.

Im "Arbeitgeber" triumphierte die Gegenseite: "Unsere Kennzeichnung des Streiks als 'soziales Kampfmittel, dessen Wirkungen sich ebensowenig rationell begrenzen lassen wie der Abwurf einer Atombombe' findet damit eine neue und erweiterte Bestätigung." Die öffentliche Meinung, gegenüber den Forderungen der Streikenden zuvor durchaus aufgeschlossen, schlug um. Den Ausständigen wurde vorgeworfen, sie wollten gar nicht arbeiten, weil ihre Unterstützung so hoch sei. Der Ruf nach einem Eingreifen des Staates - von den Unternehmern, die ihre Verbündeten in Bonn und Kiel an der Macht wußten, schon vorher verlangt - wurde lauter.

Bemüht um eine Beendigung des Streiks rief die IG Metall allein die Schlichtungsstelle an. Wieder von Johannes Ernst geleitet, einigte sich die Schlichtungskommission in Kiel bis zum 9. Februar 1957 auf einen neuen Tarifvertragsentwurf mit kleinen Verbesserungen im Bereich der Lohnfortzahlung bei Krankheit. Diesmal folgten die IG Metall-Mitglieder der Empfehlung ihrer Gremien. In der Urabstimmung vom 13. Februar wurde der Einigungsvorschlag von 39,6 Prozent der Streikenden gebilligt. Die Mehrheit lehnte ihn zwar ab, aber das Ergebnis reichte zur Beendigung des Arbeitskampfes am 15. Februar 1957.

Bitter für Gewerkschafter war das politische und gerichtliche Nachspiel dieses Streiks. In einer scheinheiligen Rundfunkansprache warf der damalige Bundeswirtschaftsminister Ludwig Erhard nach dem Streik den Arbeitnehmervertretern vor, zur Durchsetzung von unberechtigten Forderungen bewußt eine "Atmosphäre des Klassenhasses und der sozialen Zwietracht" geschürt zu haben. Zu dieser politischen Verurteilung kam eine gerichtliche. Das Bundesarbeitsgericht entschied am 31. Oktober 1958, daß die IG Metall mit ihrer ersten Urabstimmung die Friedenspflicht verletzt habe und deshalb schadenersatzpflichtig sei.

Astrid Brand, 1986
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