"Nieder mit dem Krieg! Nieder mit der Regierung!" Umringt von Gleichgesinnten, steht der Rufer auf dem Potsdamer Platz in Berlin. Polizisten drängen sich durch das Menschenknäuel, nehmen ihn fest und führen ihn ab. Die Menge wird auseinandergetrieben. Dem verhafteten Mahner für den Frieden, Karl Liebknecht, brachte die Demonstration am Abend des 1. Mai 1916, die er mitorganisiert hatte, eine mehrjährige Zuchthausstrafe.
Wie viele Menschen dem Aufruf der von ehemaligen Sozialdemokraten gegründeten Spartakusgruppe zu der Protestaktion folgten, läßt sich nicht mehr feststellen. "Wenigstens 10000" seien es gewesen, erklärte Liebknecht in einer Vernehmung. Nach dem Polizeibericht waren es nur "einige Hundert meist jugendliche Personen". Zugleich vermerkt das Protokoll aber den Einsatz "mehrerer Hundert" Beamte. Angesichts dieses Aufgebots der Ordnungshüter entspricht die Angabe Liebknechts wohl eher der Realität.
Mit Bedacht suchten sich die Antimilitaristen den "Tag des Proletariats" für ihre Kundgebungen in Berlin und anderen deutschen Städten aus. In einem von Liebknecht verfaßten illegalen Flugblatt, das zur Teilnahme aufrief, heißt es: "Arbeiter, Parteigenossen! Genug des Brudermordes! Der 1. Mai kommt als Mahner, er pocht an eure Herzen. Der Verrat am Sozialismus, an der internationalen Solidarität der Arbeiter hat die Völker ins Verderben des Weltkrieges gestürzt. Nur die Rückkehr zum Evangelium des völkerbefreienden Sozialismus, zur proletarischen Internationale kann die Völker, die Kultur, die Arbeitersache aus dem Abgrund retten." Auch mit kleinen Handzetteln machten die Spartakisten auf die Demonstration aufmerksam. "Brot! Freiheit! Frieden!" lautete ihre Losung.
Mit dem Ergebnis ihrer Kampagne waren die Organisatoren zufrieden. Über die Stimmung in Berlin, wo die größte Kundgebung war, berichtete der Gewerkschafter und Spartakist Otto Franke: "Der Mai-Weltdemonstrationsfeiertag zeigte seinen schönen Glanz im Morgenrot. Das abgerackerte halbverhungerte Proletariat, welches aus den Kriegsindustriebetrieben von der Nachtschicht kam, und die, welche zur Tagschicht gingen, diskutierten über das Maiflugblatt. Sehr erregt und heftig wurde die Diskussion in der Berliner Stadt- und Ringbahn sowie Hoch-, Untergrund- und Straßenbahn geführt. Also doch eine tüchtige Propaganda für oder gegen die Maidemonstration." Die Spartakisten fühlten sich durch die Resonanz der Bevölkerung bestätigt. Andere oppositionelle Sozialdemokraten hatten vermutet, daß wohl kaum jemand an Friedensaktionen teilnähme.
Der aufrechte Liebknecht wurde schon kurz nach dem Ausbruch des Krieges zur Symbolfigur des Widerstandes gegen die Regierungspolitik und den Kurs der Sozialdemokratischen Partei, die unter der Parole des sogenannten Burgfriedens während des Krieges auf eine innenpolitische Auseinandersetzung mit dem kapitalistischen System und dem Obrigkeitsstaat verzichten wollte. Zur Belohnung für diese Stillhaltepolitik würden die alten Eliten sie als gleichberechtigte gesellschaftliche Gruppe anerkennen, so hofften die als "vaterlandslose Gesellen" diffamierten Sozialdemokraten.
Für Liebknecht zählte dieses Argument nicht. "Burgkrieg, nicht Burgfrieden", forderte er. In einem Flugblatt, das Ende Mai 1915 unter die Bevölkerung gebracht wurde, erläuterte Liebknecht seine Haltung: "Internationaler proletarischer Klassenkampf gegen internationale imperialistische Völkerzerfleischung heißt das sozialistische Gebot der Stunde. Der Hauptfeind jedes Volkes steht in seinem eigenen Land! Der Hauptfeind des deutschen Volkes steht in Deutschland: der deutsche Imperialismus, die deutsche Kriegspartei, die deutsche Geheimdiplomatie. Diesen Feind im eigenen Lande gilt's für das deutsche Volk zu bekämpfen, zu bekämpfen im politischen Kampf, zusammenwirkend mit dem Proletariat der anderen Länder, dessen Kampf gegen seine heimischen Imperialisten geht."
Als am 4. August 1914, drei Tage nach der Kriegserklärung des Deutschen Reichs an Rußland, im Reichstag über die Kriegskredite abgestimmt wurde, beugte sich der SPD-Abgeordnete Liebknecht noch der Fraktionsdisziplin und votierte dafür. Bei der Abstimmung über die zweiten Kriegskredite am 2. Dezember desselben Jahres gab er als einziger Volksvertreter ein Separatvotum ab. Der Reichstagspräsident lehnte es ab, die Begründung seiner Ablehnung, eine mutige Anklage gegen die deutsche Regierung, in den stenographischen Bericht aufzunehmen. Sie erschien als illegales Flugblatt. "Dieser Krieg, den keines der beteiligten Völker selbst gewollt hat, ist nicht für die Wohlfahrt des deutschen oder eines anderen Volkes entbrannt. Es handelt sich um einen imperialistischen Krieg, einen Krieg um die kapitalistische Beherrschung des Weltmarktes, um die politische Beherrschung wichtiger Siedlungsgebiete für das Industrie- und Bankkapital", erklärte er darin. Eines der Kriegsziele sei auch die "Demoralisation und Zertrümmerung der anschwellenden Arbeiterbewegung". Er geißelte die offiziellen Propagandathesen: "Der Krieg ist kein deutscher Verteidigungskrieg. Sein geschichtlicher Charakter und bisheriger Verlauf verbieten, einer kapitalistischen Regierung zu vertrauen, daß der Zweck, für den sie die Kredite fordert, die Verteidigung des Vaterlandes ist."
Durch sein nur den eigenen Überzeugungen folgendes Vorgehen isolierte sich Liebknecht in der SPD-Reichstagsgruppe, obwohl immer mehr Abgeordnete die politische Linie der Fraktionsführung ablehnten. Vom 2. bis zum 4. Dezember beriet die Reichstagsfraktion unter anderem auch über den "Disziplinbruch" Liebknechts. Sie nahm eine Antrag an, der sein Abstimmungsverhalten als "unvereinbar mit den Interessen der deutschen Sozialdemokratie" brandmarkte.
Besonders scharf reagierte die Reichsregierung auf Liebknechts Antikriegspolitik. Sie ließ ihn am 7. Februar 1915 zum Militärdienst einziehen, um ihn wenigstens öffentlich mundtot zu machen. Durch die Einberufung unterlag er der Militärgesetzgebung, die eine politische Betätigung außerhalb des Parlaments verbot. In der Folgezeit blieben ihm nur der Reichstag und das preußische Abgeordnetenhaus, dem er ebenfalls angehörte, als Foren legaler Agitation gegen den Krieg.
Mit mehreren kleinen Anfragen im Reichstag versuchte Liebknecht die Regierungspolitik zu entlarven. Die erste trug er am 10. Juni 1915 vor: "Ist die Regierung bei entsprechender Bereitschaft der anderen Kriegsführenden bereit, auf der Grundlage des Verzichts auf Annexionen aller Art in sofortige Friedensverhandlungen einzutreten?" wollte er wissen. Die Regierung antwortete ausweichend, ebenso auf seine weiteren Anfragen.
Am 20. März 1915 wurde wieder über Kriegskredite abgestimmt. Diesmal erhielt Liebknecht Beistand. Der Parteifreund Otto Rühle verweigerte ebenfalls seine Zustimmung. Am 20. August 1915 lehnte Liebknecht als einziger die vierten Kriegskredite ab. Bei einer neuerlichen Abstimmung am 21. Dezember desselben Jahres schlossen sich 19 SPD-Abgeordnete seinem Votum an und 22 Mitglieder der sozialdemokratischen Fraktion verließen vor der Abstimmung das Plenum. Doch auch in der Gruppe der Fraktionsminderheit war Liebknecht nicht wohlgelitten. Seine mangelnde Kompromißbereitschaft erschwerte die Zusammenarbeit. Am 12. Januar 1916 wurde er formell aus der Reichstagfraktion ausgeschlossen.
Nur noch einmal kam er im Reichstag zu Wort. Am 8. April 1916 hielt er eine Rede gegen die Kriegsanleihe. Er wird durch aggressive Zwischenrufe gestört, ein liberaler Abgeordneter reißt ihm unter Beifall das Manuskript vom Rednerpult und wirft es auf den Boden. Als Liebknecht es aufsammelt, entzieht ihm der Reichstagspräsident wegen Verlassens der Rednertribüne das Wort. Liebknecht protestiert gegen die "Infamie" und "schnöde Vergewaltigung", worauf der Präsident mit dem Ausschluß aus der Sitzung reagiert.
Drei Wochen später wurde Liebknecht bei der Maidemonstration in Berlin verhaftet und ins Militärgefängnis an der Lehrter Straße gebracht. Am 28. Juni 1916 verurteilte das Kommandaturgericht der Reichshauptstadt ihn in erster Instanz "wegen versuchten Kriegsverrats in Tateinheit mit erschwertem Ungehorsam sowie wegen Widerstandes gegen die Staatsgewalt" zu zwei Jahren, sechs Monaten und drei Tagen Zuchthaus. In vielen Städten kam es zu Solidaritätsstreiks und -demonstrationen. Unter anderem legten 55000 Berliner Metallarbeiter für drei Tage die Arbeit nieder. Erstmals seit dem Kriegsbeginn formierte sich in der Bevölkerung eine breitere politische Opposition.
Trotz der öffentlichen Fürsprache wurde das Strafmaß für Liebknecht sogar noch erhöht. Als zweite Instanz verurteilte ihn das Oberkriegsgericht in Berlin am 23. August 1916 zu vier Jahren und einem Monat Zuchthaus, die bürgerlichen Ehrenrechte wurden ihm für sechs Jahre aberkannt.
Während ihn die Obrigkeit für sein Engagement gegen den Krieg hinter Zuchthausmauern verbannte, wurde er in der Bevölkerung zu einem der angesehensten Antimilitaristen. Am 7. August 1916 schrieb Karl Kautsky, ebenfalls ein Gegner der sozialdemokratischen Kriegspolitik, an den österreichischen Sozialisten Victor Adler: "Liebknecht ist heute der populärste Mann in den Schützengräben, das wird von allen übereinstimmend versichert, die von dort kommen."
Astrid Brand, 1986
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