Man schrieb den 8. August 1912. Nie waren Glanz und Elend des Ruhrgebiets enger verbunden als an diesem Spätsommertag. Während im üppig herausgeputzten Essen der Krupp-Konzern mit einem glanzvollen Fest sein hundertjähriges Bestehen feierte, starben bei einem Unglück auf der Zeche "Lothringen" über 100 Bergleute. Gewerkschafter und Sozialdemokraten klagten an: Was die einen reich machte, brachte die anderen ins Grab. Profite gingen auf Kosten der Sicherheit.
Kaiserwetter empfängt ihn nicht, den Souverän des Deutschen Reiches, am Donnerstag, den 8. August 1912 in Essen, wo er die größte Waffenschmiede des Staates durch seine Anwesenheit bei ihren Jubiläumsfeierlichkeiten ehrt. Der Wind treibt graue Wolken über den Himmel. Es ist kühl und gelegentlich fällt Regen. Pünktlich um 8.55 Uhr läuft der kaiserliche Hofzug auf dem Bahnhof "Hügel" ein, erwartet von den Spitzen der Krupp-Familie. Im offenen Wagen wird Wilhelm II., an seiner Seite sitzt der Konzernchef Gustav Krupp von Bohlen und Halbach, in die Essener City chauffiert - durch die aufwendig geschmückten Straßen, angekündigt von Böllerschüssen, vorbei an Spalieren gedrillter Fähnchen schwenkender Schulkinder, an Abordnungen von Vereinen und Hunderten Schaulustiger. Die Stadt zeigt sich, als gelte ihr der Besuch Seiner Majestät. Essen ist Krupp - in jener Zeit. Daß diese Behauptung mehr als ein Körnchen Wahrheit enthält, wird an diesem Tag ganz auffällig demonstriert.
Das riesige, überwiegend der Montanindustrie zugehörige Unternehmen prägt die Ruhrgebietsmetropole. Die 80 Krupp-Werke verbrauchen mehr Gas als das übrige Essen, mehr Strom als Berlin; Krupp hat eine eigene Feuerwehr, eine eigene Polizei, ein eigenes Nachrichtennetz, eigene Schulen, Bibliotheken, mehrere Wohnsiedlungen, Hotels, Kaufläden, Spinnereien und viele andere Betriebe. Sogar Bibeln, Kruzifixe und Gewänder in Essener Kirchen tragen den Vermerk: "Bewegliche Habe Fried. Krupp". Doch der Besitz in Essen ist keineswegs das ganze Imperium. Dazu kommen die große Friedrich-Alfred-Hütte in Rheinhausen, das Stahlwerk Annen, das Grusonwerk in Magdeburg, drei mittelrheinische Hüttenwerke, etliche Steinkohlenbergwerke und Eisensteinbergwerke, Tongruben, Kalksteinbrücke, die Germaniawerft in Kiel und einiges mehr. Es ist ein gigantisches Reich, das von der Erbin Bertha Krupp und ihrem Ehemann Gustav von Bohlen und Halbach beherrscht wird. Damit ihm der Name Krupp erhalten bleibt, darf ihn der Angetraute mit Erlaubnis des Kaisers übernehmen. Ein Zeichen kaiserlicher Gunst, die den Firmeninhabern häufig gewährt wird. Schließlich ist Krupp der größte Rüstungslieferant in deutschen Landen und so wundert es nicht, wenn die "Nation" bemerkt, das Jubiläum sei "in Deutschland beinahe so gefeiert (worden), als ob die Firma ein Zweig der Regierung wäre, und das trifft ja in gewissem Sinne auch zu". Da ist es nur konsequent, daß der Kaiser beim Jubiläumsfest mitfeiert. Für die Essener Stadtverwaltung fällt eine Höflichkeitsvisite ab, die der Monarch gleich nach seiner Ankunft in der Stadt absolviert. Danach geht es weiter zum Hauptverwaltungsgebäude des Krupp-Konzerns, wo das Firmenjubiläum vor über 500 Gästen aus aller Welt zelebriert wird.
Eigentlich hätte es schon 1911 gefeiert werden können, denn ein Jahrhundert zuvor gründete der Stammvater der Firma, Friedrich Krupp, am Flachsmarkt in Essen eine Fabrik "zur Erzeugung von englischem Gußstahl und aller daraus hergestellten Waren". Aber Gustav Krupp von Bohlen und Halbach wollte zugleich den hundertsten Geburtstag von "Kanonenkönig" Alfred Krupp begehen, der die Firma erst groß machte. Dieser Geburtstag war am 26. April 1812. Aus verschiedenen Gründen wurde die Jahrhundertfeier schließlich in den August 1912 verlegt.
In seiner Festrede am Morgen des 8. August im sogenannten Lichthof des Hauptverwaltungsgebäudes unterstreicht Wilhelm II.die Bedeutung des Unternehmens: "So haben die in Krieg und Frieden dem Vaterlande geleisteten Dienste für dies Werk eine besondere Stellung in Meinem Staate geschaffen und durch nunmehr drei Generationen seine Inhaber und ihre Familien zu Meinen Vorfahren und Mir in ein Verhältnis freundschaftlichen Vertrauens gesetzt." Überschwänglich und nicht gerade vornehm beendet der Kaiser seine Ansprache: "Das Haus Krupp und die Firma Krupp: hurra, hurra, hurra!"
Während in Essen in peinlicher Weise des Reiches Kriegsausstatter gefeiert wird, zeigt sich im nahegelegenen Gerthe bei Bochum das Revier von seiner schrecklichsten Seite. Um 9.30 Uhr sterben bei einer Schlagwetterexplosion auf der Zeche "Lothringen" 112 Bergleute, vielleicht mehr. Die Zahlen schwanken. Stunde um Stunde werden Tote und Verwundete aus dem Schacht geschleppt. "Ihre verbrannten, zerfetzten Leiber, der herzzerreißende Jammer der Hinterbliebenen bilden einen entsetzlichen Kontrast zu den rauschenden Festlichkeiten in Essen", klagt die Bergarbeiter- Zeitung in ihrer Ausgabe von 17. August 1912.
Dessen sind sich offenbar auch viele der Feiernden bewußt. Das Festprogramm wird geändert, ein für den nächsten Tag geplantes Ritterspiel abgesagt. Sehr zum Mißfallen des Kaisers, der durchaus angetan ist von der Idee, die Krupp-Saga ins Mittelalter zu verlegen. Aber er läßt sich überzeugen, daß seine Anwesenheit bei solch einem Spektakel kurz nach dem Massenunglück in der Öffentlichkeit wohl einen fatalen Eindruck hinterlassen würde. Viel besser wirkt der Besuch des Staatsoberhauptes auf der Unglückszeche am nächsten Tag. Schon beim abendlichen Festmahl am 8. August in einer eigens errichteten Halle an der Krupp- Villa Hügel fühlt sich der Kaiser verpflichtet, "der Trauerkunde zu gedenken, die an unser Ohr gedrungen ist". In der Morgenausgabe der Tageszeitungen konnte der Leser feststellen, daß es dem Monarchen vermutlich möglich war, jedes Thema im Militärjargon zu besprechen. Vor den rund 500 Gästen äußert er: "Es ist von dem Armeekorps der Kohle, das im Kampf mit der Erde steht, von Gefahren und Wettern umgeben, eine tapfere Schar wieder von bösen Wettern dahingerafft. Wir gedenken ihrer in Dankbarkeit, sie sind auf ihrem Felde der Ehre gefallen, und werden dem Herzen der Provinz, der sie entstammen, und in der sie arbeiteten, unvergessen bleiben. Möge der Herr den Verwundeten und Leidenden beistehen und sie zur Gesundheit zurückführen."
Als grausamer, aber unvermeidlicher Schicksalsschlag, so erscheint das Unglück auf der Zeche "Lothringen" nicht nur dem Kaiser. Auch die bürgerlichen Medien machen sich diese Version zu eigen. Zum Mitverantwortlichen erklären sie nur einen Steiger, der trotz ungünstiger Bedingungen geschossen, das heißt gesprengt habe. Die Gewerkschaftsblätter und die sozialdemokratische Presse halten dagegen. Die Schlagwetterexplosion, die das Massensterben brachte, sei auf mangelhafte Sicherheitsvorkehrungen zurückzuführen, beanstanden sie. Zwar ließen sich "kleinere Explosionen" wohl nie ganz vermeiden, räumt die Bergarbeiter-Zeitung, Organ des Verbandes der Bergarbeiter Deutschlands (Alter Verband), in ihrer Ausgabe vom 17. August 1912 ein, aber dieses Ausmaß des Unglücks sei auf eine weite Verbreitung von trockenem Kohlenstaub und Schlagwetteransammlungen zurückzuführen. Die Bewetterung sei unzureichend gewesen. Wiederholt habe der Sicherheitsmann zu Kameraden gesagt - so referiert das Blatt -: "Mich soll man wundern, ob hier nicht einmal die Flammen zum Schacht herausschlagen werden." Es habe etliche Warnungen wegen fehlender Sicherheitsvorkehrungen gegeben, aber diese seien nicht beachtet worden, kritisiert die Bergarbeiter-Zeitung, die der Zechenleitung auch massive Behinderungen des Sicherheitsmanns vorwirft.
Mehrere Wochen lang demonstrieren Bergarbeiter auf Massenversammlungen für bessere Schutzmaßnahmen.
Die Sicherheit der Kumpel werde auf dem Altar des Profits geopfert, meint die sozialdemokratische Parteizeitung "Vorwärts". In der Ausgabe vom 13. August 1912 heißt es: "Gegenwärtig ist Hochkonjunktur. Die durch den Streik geleerten Lager müssen gefüllt werden. Die Zechen können liefern, soviel sie wollen. Die Hetzjagd nach Kohlen, die zu normaler Zeit schon schlimm genug ist, hat Formen angenommen, die den Steigern jegliche Besinnung raubt. Was sind Vorschriften, was ist Arbeiterschutz? "Kohlen, Kohlen" heißt die Parole. Hierin ist die Ursache dieses Massenunglücks auf Zeche 'Lothringen' zu suchen..." Die Bergarbeiter-Zeitung vom 17. August macht eine Rechnung auf: "Viel Aufhebens wird in der bürgerlichen und Werkspresse davon gemacht, daß die Zeche für die Hinterbliebenen 50000 Mk. gespendet hat. Diese Summe erscheint ungeheuer winzig, wenn man in Betracht zieht, daß der Reingewinn der Zeche gestiegen ist von 971283 Mk. im ersten Halbjahr 1911 auf 1379397 Mk. im ersten Halbjahr 1912; das ist eine Steigerung um 408114 Mk. = 42 Prozent. Nach dem Bericht des Bochumer Knappschaftsvereins betrug die durchschnittliche Belegschaftsziffer 1911 2439 Mann. Auf den Kopf der Belegschaft erzielte die Zeche mithin einen Reingewinn im ersten Halbjahr 1911 von 398 Mk., im ersten Halbjahr 1912 einen solchen von 556 Mk., zusammen 954 Mk. Auf die 139 Getöteten und Verletzten entfällt danach ein Reingewinn von 139 954 = 122606 Mk. Davon wurden den Hinterbliebenen 50000 Mark gespendet und das nennt man Wohltun."
Astrid Brand, 1987
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