Ob es wohl "Bedenken" gäbe, "daß das Bier in Leipzig dem bayerischen Geschmacke nicht behagen würde" ... Nicht ganz ernst rätselte der Leitartikler des "Correspondenten", der "Wochenschrift für Deutschlands Buchdrucker und Schriftgießer", in der Ausgabe vom 4. Mai 1866 über die Gründe für das offensichtlich mangelnde Interesse der bajuwarischen Buchdrucker an der Schaffung einer Gewerkschaft. Doch auch die Vorhaltungen des Blattes fruchteten nichts. Als am 20. Mai 1866 im sächsischen Leipzig der Deutsche Buchdruckerverband, ein Vorläufer der IG Druck und Papier, gegründet wurde, war aus Bayern niemand dabei.
Die bürgerlichen Zeitungen hatten für die Entstehung der zweitältesten deutschen Gewerkschaft kaum Zeilen übrig. Im Wonnenmonat des Jahres 1866 galt die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit viel mehr dem drohenden Krieg zwischen Preußen und Österreich. Während sich Preußens Eiserner Kanzler Otto von Bismarck gemäß seinen Grundsätzen anschickte, die nationale Einigung des zersplitterten Deutschland "durch Eisen und Blut" zu erzwingen, versammelten sich zu Pfingsten 1866 im Leipziger Schützenhaus auf dem dreitägigen Buchdruckertag 34 Delegierte, die 3187 Mitglieder von lokalen Vereinigungen in 85 Orten vertraten. Aus einigen Ländern waren überhaupt keine Delegierten gekommen. Ein gutes Jahr vor der Gründung des Norddeutschen Bundes dominierten bei der Entstehung der Arbeiterorganisation die Vertreter aus diesem Gebiet. Teilweise gehörten die Herkunftsorte der Delegierten zu gegnerischen Lagern. Sachsen mit der deutschen Verlagsmetropole Leipzig stand auf der Seite des Habsburgerreiches, der Hohenzollernstaat war mit Delegierten unter anderem aus der Zeitungsstadt Berlin vertreten. Den Initiatoren der Verbandsgründung galt die Kriegsgefahr nicht als Hinderungsgrund für die Teilnahme am Kongreß. Immer wieder appellierte der "Correspondent", Delegierte zu schicken und geißelte die "Lauheit" der Kollegen. Am 4. Mai 1866 klagte der Kommentator: "Verhältnismäßig wenige kleine und noch weniger größere Städte haben sich angemeldet, aber sehr viele kleine, mittlere und größere Druckorte haben sich in ein ernstes Schweigen gehüllt, höchstens hier und da vielleicht unterbrochen durch Tanzkränzchen u. dgl. Entweder man hat in Folge von dergleichen lokalen Festlichkeiten nicht die nötige Zeit zur Überlegung gewinnen können oder man ist bereits so mustergültig organisiert, daß man nur mit Achselzucken auf Bestrebungen herabsieht, die den Zweck haben, erst zu schaffen."
Ebenso wie bei der Mehrheit der Deutschen war auch bei den Buchdruckern der "Bruderkrieg" unpopulär. Solch ein Krieg ist "das gerade Gegenteil von dem, was wir wollen", kritisierte Richard Härtel, der Vorsitzende des Leipziger Buchdruckervereins, auf dem Kongreß. "Das Resultat desselben wird eine Verfeindung der deutschen Stämme sein, während unsere Arbeit darauf berechnet ist, dieselben deutschen Stämme, wenigstens soweit es die Buchdrucker betrifft, einander näher zu führen, betonte er. Einige Stunden später, am Abend des ersten Sitzungstages, dem Gründungsdatum des Buchdruckerverbandes, wurden die Delegierten bei einer kleinen Feier mit Militärmusik unterhalten. Wie der "Correspondent" schrieb, war "die Stimmung eine enthusiasmierte". Vor dem Kongreß hatten die Organisatoren noch herbe Kritik einstecken müssen. In seiner Ausgabe vom 11. Mai 1866 griff der "Correspondent" die Vorwürfe auf: "'Das Programm ist zu trocken!' 'Die Arbeitermasse bleibt Eueren Bestrebungen gegenüber gleichgültig!' Diese Worte sind in unserer Mitte gefallen. Es ist wahr, daß es nur trockene Themas sind, welche auf dem Buchdruckertage besprochen werden sollen, aber wie könnten es andere bei dem trockenen Zustande sein, in welchem sich die deutschen Buchdrucker befinden? Ist es etwa unsere Schuld, daß wir über so trockene, über so natürliche Punkte, die ebenfalls, wenn es anginge, nur 'diktiert' zu werden brauchten, 'debattieren' müssen? Glaubt man etwa von dem ersten Buchdruckertage, daß er nur seine Wünsche auszusprechen brauche, um unsere Verhältnisse günstig umzugestalten? Daß er nur nötig habe, an die 'Arbeitermasse' zu appellieren, um etwas 'Rechtes' fertig zu bringen? Nein, wir müssen mit dem 'trockenen' Geständnis beginnen, daß die deutschen Buchdrucker eine zwar große, aber nicht organisierte und darum machtlose Armee sind, die nichts weniger als geschickt sein dürfte, so wie sie ist, mit Nachdruck in die soziale Frage einzugreifen... Daß die Arbeitermasse unseren Bestrebungen gegenüber gleichgültig ist, kann uns nichts schaden, wohl aber die Lauheit unserer Kollegen. - Wir mußten sie bei Entwurf des Programms in Anschlag bringen, und darum haben wir vermieden, großen Lärm von dem Buchdruckertage in weiteren Kreisen zu machen, indem wir vielleicht nicht ohne Grund fürchten mußten, uns eventuell durch von uns nicht verschuldete Teilnahmslosigkeit der deutschen Kollegen bloßzustellen."
Wenn auch die Beteiligung am ersten Buchdruckertag manchen enttäuscht hatte: Trotzdem gehören die Buchdrucker zur Avantgarde der Arbeiterschaft. Das Ziel eines nationalen Zusammenschlusses hatte bei den "Söhnen Gutenbergs", wie sie sich gelegentlich nannten, eine lange Tradition. Erste Versuche, sich zu organisieren, gab es Mitte des vergangenen Jahrhunderts in der Aufbruchstimmung nach der sogenannten Märzrevolution von 1848. Aber nachdem die liberale Verfassungs- und Einheitsbewegung in Deutschland den Bajonetten der Reaktion gewichen war, gelang es den Obrigkeitsstaaten schon nach kurzer Zeit, die gewerkschaftliche Sammlungsbewegung wieder zu ersticken. Erst in den sechziger Jahren schränkten mehrere deutsche Regierungen die Repressalien gegen die Arbeiterschaft etwas ein. Die Gründung von nationalen Gewerkschaften wurde möglich, wenngleich auch nur mit vorsichtigem Lavieren um die Gesetzesklippen. Schließlich galt in den meisten deutschen Staaten noch der Beschluß des Deutschen Bundes von 1854, demzufolge die "Verbindung" von Arbeitervereinen verboten war. Das Königreich Sachsen hob diesen Beschluß 1865 auf, aber trotzdem mußten die Gewerkschaftsgründer obrigkeitsstaatliche Einmischungsversuche befürchten. Sie deklarierten den Gründungskongreß deshalb verharmlosend als "Vereinstag" und bemühten sich um eine behördliche Genehmigung, die von der königlichen Kreisdirektion zu Leipzig ein halbes Jahr nach der Antragstellung "für diesmal" erteilt wurde.
Bei dem Aufbau ihres Verbandes orientierten sich die Buchdrucker an den unterschiedlichen organisatorischen und politischen Bedingungen in Deutschland. Die Ortsvereine waren relativ selbständig. Auf dem ersten Buchdruckertag wurde noch keine Satzung festgelegt, das geschah erst auf dem zweiten Kongreß im Jahr 1868. In seinem Schlußwort sprach Richard Härtel von einer "Verbindung, die weniger durch geschriebene Paragraphen wie durch den in ihr waltenden Geist der Brüderlichkeit befestigt wird". Die Beschlüsse der Delegierten waren maßvoll. Sie verlangten unter anderem die Koalitionsfreiheit und beschlossen, Unterstützungskassen und Produktivgenossenschaften zu fördern. Ein unerwartetes Ergebnis brachten die Wahlen zur Verbandsspitze, der Ständigen Kommission. Zum Vorsitzenden wurde nicht der Kongreßleiter Richard Härtel, sondern Berthold Feistel aus Berlin gewählt. Als Verbandssitz bestimmten die Kongreßteilnehmer vorerst die Hauptstadt Preußens, trotzdem erschien der "Correspondent", nunmehr Organ der Gewerkschaft, weiterhin in Leipzig.
Mit den Zigarrenarbeitern, die im Dezember 1865 eine Gewerkschaft gründeten, bildeten die Buchdrucker den Teil der deutschen Arbeiterschaft, der sich besonders früh und nachdrücklich um die Schaffung von eigenen Organisationen bemühte. Der Gewerkschaftsgedanke hatte in der Druckbranche einen guten Nährboden. Die Buchdrucker waren generell überdurchschnittlich gebildet und erkannten früh, daß sie ihre armseligen Lebensverhältnisse am ehesten mit Hilfe eines organisatorischen Zusammenschlusses verbessern könnten. Zwar lag ihr Lohn etwas über dem Durchschnitt der übrigen Arbeiterlöhne, aber auch das reichte nicht zur Sicherung eines erträglichen Lebensstandards. Die Arbeitszeit betrug durchschnittlich täglich elf bis zwölf Stunden. Für das Jahr 1868 wurde die Zahl der Buchdruckergehilfen auf rund 15000 geschätzt, ihre statistische Lebenserwartung auf 34,8 Jahre. Die meisten von ihnen starben an der Auszehrung.
Der "Deutsche Krieg" vom 15. Juni bis zum 26. Juli 1866, der mit der Niederlage der Donaumonarchie endete, eine Wirtschaftskrise mit hoher Arbeitslosigkeit und eine verheerende Choleraepidemie behinderten den Aufbau der jungen Buchdruckerorganisation. Nach einem Jahr hatte sich die Mitgliederzahl erst auf etwa 3500 erhöht. Das entsprach einem Organisationsgrad von ungefähr 23 Prozent. Damit waren die Buchdrucker der am besten gewerkschaftlich organisierte Teil des deutschen Proletariats. Nach einiger Zeit konnten sie auch beachtliche Erfolge vorweisen. 1873 absolvierten sie einen Arbeitskampf, der in der Gewerkschaftsbewegung noch lange als vorbildlich galt. Sie setzten damit sie den ersten zentralen Tarifvertrag in Deutschland durch.
Doch mit den Erfolgen kamen die Feinde. 1878 verabschiedete der deutsche Reichstag das sogenannte Sozialistengesetz, mit dem Bismarck die aufstrebende Arbeiterbewegung zu vernichten trachtete. Ein Jahr später wurde der Deutsche Buchdruckerverband verboten.
Astrid Brand, 1986
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